„Arbeitswelt wird auf den Kopf gestellt“
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April 2023

„Arbeitswelt wird auf den Kopf gestellt“

Von Björn Carstens
Warum Spitzenengineering ein zunehmend wichtiger Resilienz-Faktor für Unternehmen wird, erläutert Fraunhofer-Forscher Prof. Dr.-Ing. Roman Dumitrescu, Direktor im Forschungsbereich Produktentstehung.

Schaeffler ist ein Unternehmen mit einem starken Wertefundament, das auf vier Grundwerten basiert: exzellent, nachhaltig, innovativ und leidenschaftlich. Sie definieren „Engineering Excellence“ als entscheidenden Resilienz-Faktor für Unternehmen. Warum ist Exzellenz so wichtig?
Man muss sich die Ausgangslage klarmachen. Fast alle Wirtschaftszweige müssen sich – getrieben von technologischen, aber auch ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen – transformieren. Auf produzierende Unternehmen prasseln dabei vielfältige Engineering-Herausforderungen ein. Sie müssen neue, zum Teil disruptive Technologien sowohl bei Entwicklung als auch bei Produktion und dem Produkt selbst mit bestehendem Know-how verknüpfen. Dazu müssen die Entwicklungsabteilungen in volatilen Zeiten wie den unsrigen fast hellseherische Fähigkeiten entwickeln, was die Märkte zukünftig erwarten. Hinzu kommen die Kriterien, die wir schon immer als exzellentes Engineering bezeichnet haben – also ein zuverlässiges, verfügbares und sicheres System sowie die Produktqualität im Allgemeinen. Produktlösungen müssen entsprechend dieser Gemengelage immer mehr interdisziplinär gefunden werden. Schon allein mit Blick auf die immer wichtiger werdende Kreislaufwirtschaft. Das alles in Einklang zu bringen heißt, Engineering Excellence noch einmal neu zu denken. Das sind unheimlich große Herausforderungen für Produktentwickler. Und nur Unternehmen, die diese Herausforderung meistern, entwickeln die nötige Resilienz, um sich am Markt zu behaupten.

„Produktlösungen müssen immer mehr interdisziplinär gefunden werden.“

Bitte konkretisieren Sie diese Herausforderungen.
Die Digitalisierung und insbesondere die künstliche Intelligenz (KI) wird zu intelligenten, vernetzten Systemen führen, die auf dem engen Zusammenwirken vieler Fachdisziplinen basieren. Dies prägt nahezu alle Zukunftsthemen wie Mobilität, Energieversorgung und Kreislaufwirtschaft. Derart komplexe Systeme zu kreieren erfordert eine neue, auf der Systemtheorie und Systemtechnik beruhende Herangehensweise. Darauf sind weder Industrie noch Hochschulen adäquat vorbereitet: In beiden Sektoren sind die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten aufbauorganisatorisch nach Fachdisziplinen respektive Fakultäten aufgestellt; es fehlt an ganzheitlichen Methoden und ganzheitlichem Denken. Und genau das braucht es, um ein zirkuläres Produkt auf den Weg zu bringen. Das fängt bei der Materialauswahl an, geht über potenzielle Upgrade-Modelle bis hin zur Überlegung einer qualitätsgesicherten Überholung. Letzteres ist beispielsweise beim Refurbishing von Smartphones ein gängiges Modell. All das muss schon beim ersten Entwurf berücksichtigt werden.

Können Sie uns aus Ihrer Praxis ein Beispiel eines erfolgreichen Umdenkens nennen?
Ein schönes Beispiel für eine Produktentwicklung, die zeigt, welche Potenziale gehoben werden können, wenn man das Ganze ein wenig anders angeht, ist der Maschinen- und Anlagenbauer GEA – einer der weltweit größten Systemanbieter für die Nahrungsmittel-, Getränke- und Pharmaindustrie. Als hauptsächlich Stahl verarbeitendes Unternehmen stellen Lieferzeiten, Kosten und der tiefe CO₂-Fußabdruck des Materials ein immer größer werdendes Problem dar. Was unsere Forschenden jetzt gemeinsam mit dem Unternehmen gemacht haben, ist Folgendes: Sie haben bei der Produktentwicklung genetische, also sich weiterentwickelnde KI-Algorithmen zu Hilfe genommen. Man kann sich das in etwa so vorstellen: Genetische Algorithmen führen Experimente durch, versuchen, mehrere neue Wege in der Produktentwicklung zu finden. Dabei kamen gute und weniger gute Lösungen heraus, die von den Mitarbeitenden der Firma gefiltert wurden. Hier kommt der Faktor Mensch ins Spiel. Denn in diesem Moment lernt das System. Im Endeffekt haben die Vorschläge, die durch die genetischen Algorithmen generiert und mithilfe der Mitarbeitenden ausgewählt wurden, dazu geführt, dass GEA bei der Herstellung seines Produkts 30 Prozent weniger Stahl verbraucht hat und so signifikant seinen CO₂-Fußabdruck verbessern konnte.

„Engineering Excellence wird es in Zukunft ohne Mithilfe von KI kaum oder gar nicht geben.“

Sie haben Algorithmen angesprochen. Welchen Einfluss hat künstliche Intelligenz auf Engineering Excellence?
Ich bin überzeugt: Engineering Excellence wird es in Zukunft ohne Mithilfe von KI kaum oder gar nicht geben. Weil KI gleich mehrfach hilft. Zum einen können wir KI mit der Expertise von Fachleuten füttern, die in Rente gehen, und dieses Wissen konservieren, bevor es verloren geht. Wichtig ist es aber auch, dieses Wissen zu externalisieren, um auch im Zeichen des Fachkräftemangels fachgebietsübergreifend leistungsfähig zu bleiben. Der Fachkräftemangel ist ohnehin ein weiterer Punkt, bei dem KI helfen kann. Viele Industrienationen haben einfach Probleme, Nachwuchs zu finden. Die Situation ist teilweise dramatisch. Und wenn Entwicklerinnen und Entwickler fehlen, muss KI die wenigen vorhandenen Kapazitäten entlasten. Zum Beispiel indem sie wie bei GEA verschiedene Lösungsansätze entwickelt, aus denen Experten die besten herausfiltern und weiterentwickeln. Wir müssen es schaffen, KI wirklich in den Engineeringprozess einzuführen. Dafür müssen eigene KI-Systeme entwickelt und eingesetzt werden.

Warum sind Sie davon so überzeugt?
Weil KI das Potenzial hat, unsere bekannte Arbeitswelt auf den Kopf zu stellen. In der Informatik ist es gang und gäbe, dass Studenten Software-Entwicklungscodes durch ChatGPT laufen lassen, um ihn zu analysieren. Künftig werden Software-Entwickler vermutlich kaum noch am Code dokumentieren, weil Systeme wie ChatGPT das im Nachhinein genauso gut können. Ähnlich sieht das bei Fehleranalysen aus. Aber, und jetzt kommt das große Aber: Wir haben solche KI-Lösungen noch nicht, wenn wir über wirklich komplexe Systeme sprechen. Daran müssen wir arbeiten. Wenn ich für die deutsche Perspektive sprechen darf: Es wäre auch aus Resilienz-Gesichtspunkten schön, wenn so ein System zuerst in Deutschland entwickelt werden würde als in den USA oder in China.

Schon mehrfach fiel der Begriff Kreislaufwirtschaft. Welchen Einfluss hat er auf Engineering Excellence?
Früher wurden beim Produkt oft nur die ersten beiden Phasen Entwicklung und Betrieb betrachtet. Jetzt geht es vermehrt um vorgelagerte Fragen wie: Welche Rohstoffe können genutzt werden, wie kann der Ressourcenverbrauch reduziert werden, und es geht um nachgelagerte Aspekte wie Recycling und das schon angesprochene Refurbishing. Die Digitalisierung bringt uns dabei einen neuen Zugang zum Produkt, da wir Daten über verschiedene Lebenszyklusphasen generieren können. Die Hersteller wissen jetzt sehr genau, wie das Produkt gefertigt wurde, wie es ausgeliefert wurde, wer es gekauft hat, wie es der Konsument genutzt hat, welche Fehler angefallen sind und so weiter und so fort. Aus dieser Datenmenge kann ich unheimlich viele Schlüsse ziehen. Zum Beispiel ob ich als Hersteller lieber ein Produktupgrade fahre oder eine neue Produktgeneration auf den Markt bringe. Bisher war immer viel Bauchgefühl dabei. Jetzt hält auch hier Engenieering Excellence Einzug.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Der Haushaltsgerätehersteller Miele befindet sich auf einem guten Weg in Sachen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beispiel Geschirrspülmaschine. Früher hätte man vermutlich dem Kunden versprochen: Dieses Gerät hält 20 Jahre lang. Das macht man nicht mehr, weil in diesen 20 Jahren vermutlich viel effizientere Geräte entwickelt werden. Stattdessen stellt Miele seinen Kunden Softwarelösungen zur Verfügung, um während der Betriebsphase den Energieverbrauch zu senken. Das ist ein immenser Wandel in der gesamten Entwicklung eines Unternehmens, sich auf solche Geschäftsmodelle einzulassen.

Aber kaputt bedeutet weiterhin Schrottplatz?
Nein, es geht auch um Wiederaufbereitung. Beispiel: Ist die Maschine nach zehn Jahren kaputt, wird sie gegen Aufpreis gegen eine neuere, effizientere ausgetauscht, die alte Maschine wird mitgenommen, mit einem neueren Technologiestand ausgestattet und als erneuertes Gerät wieder verkauft. Engineering Excellence zeichnet sich aber auch dadurch aus, dass Geräte so konstruiert werden, dass sie sich leicht reparieren lassen. Auch das ist ein Schritt weg von der Wegwerfgesellschaft.

In einem Entwicklungsprozess müssen nicht nur Produktion und Produkt optimiert werden, sondern auch die Stationen davor und danach

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Sie fordern Unternehmen auf, komplexe Systeme professionell zu entwickeln und schnell zum nachhaltigen Markterfolg zu bringen. Wie verträgt sich „schnell“ mit „Excellence“?
Schnell bedeutet in dem Kontext agiles Entwickeln – ein Modewort, das es im Software-Engineering schon lange gibt. Agilität bedeutet nur, in der Lage zu sein, auf neue Gegebenheiten zu reagieren. Eine Resilienz-Grundtugend, die überhaupt nicht konträr mit dem Begriff der Excellence ist.

Sie unterscheiden zwischen technischen und soziotechnischen Systemen. Was verstehen Sie unter soziotechnisch?
Soziotechnisch hat zwei Perspektiven. Zum einen, wenn ein System in einem Umfeld agieren muss. Das heißt: Es gibt Benutzer, es gibt andere Systeme, es gibt eine Gesetzgebung – also ein gesellschaftliches Umfeld, in dem das System akzeptiert werden muss. In der Vergangenheit hat man wenig Shitstorm erwarten dürfen, das sieht heutzutage anders aus. Beispiel E-Autos: Die Generationen Y und Z kaufen keine mehrere Tonnen schweren Elektroautos von Luxusherstellern. So kann nicht die Zukunft von Elektromobilität aussehen. Diese Käuferklientel gibt es im Moment vielleicht noch, aber sie stirbt aus. Das meine ich damit, auch das soziale Umfeld bei der Produktentwicklung zu betrachten. Die zweite Perspektive ist der Entwicklungsprozess selbst, in dem der Mensch trotz aller KI-Systeme noch immer eine entscheidende Rolle spielt. Der Mitarbeitende muss neue Methoden in der Entwicklung akzeptieren, er muss offen sein für Weiterbildungen, aber er muss auch Spaß an der Sache haben.

Können die Innovationsherausforderungen nur gestemmt werden, wenn Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eng zusammenarbeiten?
Ja, definitiv. Politik muss die Rahmenbedingungen schaffen, damit Entwicklungs-, Innovations- und Produktionsstandorte attraktiv bleiben. Wieder ein Beispiel: Aktuell liegt Nordamerika bei der Standortwahl von Unternehmen weit vorne, weil dort die politischen Verhältnisse halbwegs stabil sind und die Energiekosten niedrig. Und die staatlichen Subventionen sind in den USA um den Faktor sechs bis sieben höher als beispielsweise in Deutschland. Das heißt aber nicht, dass andere Nationen jetzt ihre Subventionen hochfahren müssen. Sie müssen andere Wege gehen, damit die Konzernzentralen der großen produzierenden Unternehmen nicht abwandern. Genau dort steckt das meiste geistige Eigentum, die Engineering Excellence.

„Wissenschaft muss bei jungen Talenten Technikbegeisterung entfachen. Professoren sollten Studierende nicht gleich im ersten Semester mit übertriebenen Matheanforderungen aussieben.“

Welche entscheidende Rolle hat die Wissenschaft?
Sie muss bei jungen Talenten Technikbegeisterung entfachen. Professoren sollten Studierende nicht gleich im ersten Semester mit übertriebenen Matheanforderungen aussieben. Womöglich verlieren wir in diesem Schritt Techniktalente. Und wenn der demografische Wandel so hart ist, dass ein Unternehmen keine Talente mehr bekommt, wird es praktisch gezwungen, einen neuen Standort zu suchen. Wir machen oft den Fehler, nur Spitzenforschende ausbilden zu wollen, stattdessen müssen wir auch an die Breite denken. Ich weiß nicht, ob ein Steve Jobs in Deutschland ein Informatikstudium bestanden hätte. Ein technisch basiertes Studium darf keine elitäre Veranstaltung sein. Da sind die Hochschulen gefragt, Ausbildung anders zu denken.

„Beim Engineering haben wir den größten Stellhebel für nachhaltigen Unternehmenserfolg.“

Das von Ihnen mitentwickelte Advanced Systems Engineering (ASE) soll ein Leitbild für eine neue Perspektive in Planung, Entwicklung und Betrieb technischer Systeme werden. Wie und warum?
ASE lässt sich am besten erklären, wenn man die Strategie in drei Begriffspaare unterteilt. Der erste ist Advanced Systems. Künftige Systeme werden sich massiv ändern. Sie werden autonom, intelligent und hochvernetzt sein. Aktuell ist es noch so: Wir entwickeln ein Produkt und danach einen Service. Das kann so nicht mehr erfolgreich sein. Die Systeme selbst drängen uns dazu, ein neues Leitbild im Engineering zu entwerfen, in dem Produkt und digitale Erweiterungen verschmelzen. Damit sind wir beim zweiten Begriffspaar, dem Systems Engineering. Dabei steht die modellbasierte Systemoptimierung über den gesamten Lebenszyklus mithilfe eines digitalen Zwillings im Vordergrund. Wir können nicht mit den Methoden der vergangenen 20 Jahre entwickeln. Wir haben tolle Spezialisten für Hydraulik, für Mechanik, für die Schaltungstechnik, aber uns fehlt häufig die Interdisziplinarität in der Entwicklungsmethodik. Der dritte Teil beschreibt das Advanced Engineering, das neu gedacht werden muss. Dabei geht es im Wesentlichen um zwei Komponenten. Zum einen muss neue Technologie wie KI oder digitale Zwillinge angewendet werden. Aber genauso wichtig sind die soften Themen wie Agilität, Kreativität und Sozialkompetenz. Entwicklung muss Spaß machen. Entwicklung kann nicht heißen, nur eine ausführende Einheit zu sein, die eine Anforderungsspezifikation in eine Produktspezifikation überführt. Das können Algo­rithmen irgendwann genauso gut. Dieses Leitbild des verantwortungsvoll-selbstbestimmten, kreativen Entwicklers muss in die Köpfe der Unternehmensleitungen. Denn beim Engineering haben wir den größten Stellhebel für nachhaltigen Unternehmenserfolg.

Was bedeutet ASE für den Arbeitsmarkt?
Wir müssen lernen, dass wir im Arbeitsmarkt bereits sehr viel Erfahrung haben. Diese Ingenieure müssen wir auf dem Weg in die Zukunft mitnehmen. Ältere Kollegen begeistert man am besten, wenn man ihnen junge begeisterte Kollegen an die Seite stellt. Aber woher nimmt man die, das ist die Frage! Das Argument, studiere irgendwas mit Technik, du findest sicher einen Arbeitsplatz, zieht nicht mehr. Wir müssen zeigen, welche Möglichkeiten Technik schafft, wie sich mit Technik gestalten lässt, was sich mit Technik bewirken lässt. Zum Beispiel kann man Umwelttechnik studieren und sich damit auseinandersetzen, wie sich die Ansteuerung von intelligenten Netzen verbessern lässt, um so 20 bis 30 Prozent weniger CO₂ auszustoßen. Ohne technische Lösungen werden wir es nicht schaffen, mit bald zwölf Milliarden Menschen friedlich und nachhaltig auf dieser Erde zusammenzuleben.

Der Experte
„Arbeitswelt wird auf den Kopf gestellt“© David Gense / Fraunhofer IEM

Prof. Dr.-Ing. Roman Dumitrescu promovierte 2010 im Bereich Systems Engineering. Von 2011 bis 2015 war er Leiter der Abteilung Produktentstehung des Fraunhofer-Instituts für Entwurfstechnik Mechatronik IEM. Seit 2015 ist er einer von drei Direktoren des Instituts und verantwortet weiterhin den Bereich Produktentstehung.