KI mit Verstand
Bei einer Reasoning-KI handelt es sich um neue KI-Systeme, die weit über das bloße Erkennen von Mustern hinausgehen. Während herkömmliche Modelle insbesondere Wahrscheinlichkeiten berechnen und vorhersagen, welches Wort oder welche Zahl eher als Nächstes folgt, setzt Reasoning-KI auf die Fähigkeit zu logischen Schlussfolgerungen, strukturierter Planung und problemlösender Kreativität. Auf diese Weise imitiert die Technologie Denkprozesse, die man bislang ausschließlich dem Menschen zuschrieb. Statt nur ein statistisches Muster zu erkennen, entwickelt die Reasoning-KI eine Art gedankliche Kette, ähnlich wie ein Mensch, der eine komplexe Aufgabe Schritt für Schritt angeht und durchdenkt. Insbesondere KI-Agenten profitieren in ihrer Wirksamkeit von fortgeschrittenen Reasoning-Fähigkeiten. Dadurch sind sie in der Lage, komplexe Problemstellungen zu analysieren, Handlungsstrategien abzuleiten und ihr Verhalten auf Basis neuer Daten situationsabhängig zu optimieren.
Was sind KI-Agenten?
KI-Agenten sind autonome Softwareeinheiten, die auf modernen KI-Modellen basieren, wie KI-Sprachmodellen, Machine Learning und multimodalen Eingabemöglichkeiten für Text, Sprache, Bilder, Video und Code. Im Diskurs werden Begriffe wie KI-Agent, KI-Assistent und Bot oft synonym verwendet, dabei unterscheiden sie sich voneinander. Anders als beispielsweise Siri oder Alexa handeln KI-Agenten eigenständig und proaktiv, um ihre Ziele zu erreichen – ohne ständige menschliche Eingabe. Sie planen Aufgaben eigenverantwortlich, führen sie aus, bewerten und passen sie an. Beispiele sind Agenten im Gesundheitswesen, die bei der Diagnose helfen und Patientendaten kontinuierlich überwachen. Oder KI-Agenten im Finanzsektor, die den algorithmischen Handel mit Wertpapieren unterstützen.
In der IT wird in diesem Zusammenhang häufig von sogenannten „System 2“-Fähigkeiten gesprochen. Dies geht darauf zurück, dass das menschliche Denken in zwei Systeme unterteilt wird: System 1 steht für schnelle, intuitive Reaktionen, System 2 dagegen für reflektierte, bewusste Überlegungen. Genau diesen zweiten Modus versuchen Reasoning-KI-Modelle abzubilden. Das heißt, das System soll nicht impulsartig auf Eingaben reagieren, sondern Argumente entwickeln, Alternativen abwägen und Entscheidungen nachvollziehbar herleiten.
„Das Modell formuliert zunächst eigene Gedankengänge, die es wie eine innere Argumentationskette aufbaut. Erst am Ende dieser Kette steht die finale Lösung, die so für den Anwender deutlich transparenter und besser nachvollziehbar wird.“
Otto Geißler, Fachjounalist für IT und digitale Strategien
Funktionsweise der Technologie
Grundlage von Reasoning-KI sind große Sprachmodelle, die durch gezielte Mechanismen erweitert wurden. Eine zentrale Rolle spielen hierbei interne Zwischenschritte. Das heißt, das Modell formuliert zunächst eigene Gedankengänge, die es wie eine innere Argumentationskette aufbaut. Erst am Ende dieser Kette steht die finale Lösung, die so für den Anwender deutlich transparenter und besser nachvollziehbar wird.
Dafür erlaubt es Reasoning-KI den Modellen, ihre eigenen Zwischenschritte kritisch zu überprüfen, mögliche Fehler zu erkennen und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen. Zusätzlich kann das System externe Hilfsmittel wie Suchmaschinen, Taschenrechner oder Datenbanken einbinden, um Antworten mit Fakten zu unterlegen oder Berechnungen abzusichern. Dadurch wird es robuster und weniger anfällig für Fehler, die rein aus statistischen Mustern entstehen können.
Des Weiteren spielt das Training auch eine entscheidende Rolle. Reasoning-Modelle werden nicht nur mit großen Textmengen gefüttert, sondern gezielt auf komplexe Aufgaben vorbereitet. Verfahren wie Reinforcement Learning, Curriculum Learning oder eigens entwickelte Reasoning-Datensätze helfen dabei, die Fähigkeit zu „menschlichem Denken“ und strukturiertem Problemlösen zu schärfen.
Wobei es sich beim Reinforcement Learning um eine Methode des maschinellen Lernens handelt, bei der ein Agent durch Interaktion mit einer Umgebung lernt, Belohnungen zu maximieren. Das Curriculum Learning zählt ebenfalls zu den Methoden des maschinellen Lernens, jedoch wird in diesem Fall das Modell schrittweise von einfachen zu schwierigen Aufgaben trainiert.
Verfahren für Reasoning-KI
Folgende Verfahren verwandeln statistische Sprachmodelle in nachvollziehbare Problemlöser, deren Resultate weitaus verlässlicher sind.
- Denken sichtbar machen
Das Verfahren des Chain-of-Thought-Prompting zwingt das KI-Modell dazu, nicht nur eine Lösung zu liefern, sondern die Zwischenschritte offenzulegen. Diese Vorgehensweise macht Schlussfolgerungen nachvollziehbar, erhöht die Auffindbarkeit von Fehlern und optimiert die Lösungskompetenz vor allem bei mehrstufigen Problemen. - Mehrere Denkwege prüfen
Self-Consistency erweitert die erste gefundene Idee, indem das KI-Modell mehrere alternative Gedankengänge generiert und die Antworten vergleicht. Daraus wird die konsistenteste oder am häufigsten auftauchende Schlussfolgerung ausgewählt. - Pfade statt Linien
Tree-of-Thoughts durchbricht die lineare Denkstruktur und errichtet einen Entscheidungsbaum. Statt einen einzigen Pfad zu verfolgen, erkundet das KI-Modell parallel mehrere Lösungszweige, bewertet Zwischenstände und verwirft unbrauchbare Äste. Dieses Verfahren erinnert stark an menschliches Abwägen komplexer Szenarien. - Schrittweise Komplexität
Least-to-Most zerlegt große Aufgaben in eine Abfolge kleinerer, aufeinander aufbauender Teilprobleme. Das KI-Modell löst einfache Unteraufgaben, nutzt deren Ergebnisse für schwerere Schritte und steigert so systematisch die Komplexität. Auf diese Weise entsteht ein systematischer Lern- und Lösungsprozess, der sich hervorragend für komplizierte Problemstellungen eignet.
Anwendungsfälle für Reasoning-KI
Reasoning-KI ist überall dort relevant, wo einfache Mustererkennung nicht reicht, sondern echtes Problemlösen und Planen gefragt ist. In der Folge ein paar Anwendungsfälle:
- Prozessplanung
In der Unternehmensplanung eröffnet Reasoning-KI neue Möglichkeiten. Während klassische Systeme vor allem historische Daten auswerten und Trends extrapolieren, können Reasoning-fähige Modelle Szenarien simulieren und logische Abhängigkeiten berücksichtigen. Ein Unternehmen, das eine neue Produktionslinie aufbauen will, erhält dadurch nicht nur Absatzprognosen, sondern auch detaillierte Analysen zu Lieferkettenrisiken, regulatorischen Anforderungen oder Nachhaltigkeitszielen. Die Technologie ermöglicht es, verschiedene Handlungsoptionen parallel durchzuspielen. Sie berechnet nicht nur, ob eine Investition profitabel sein könnte, sondern auch, wie externe Schocks – etwa Rohstoffengpässe oder geopolitische Krisen – die Planung beeinflussen würden. Damit entsteht eine Art Entscheidungsraum, der weit mehr Faktoren einbezieht, als es rein statistische Modelle könnten.
- KI-Agenten
Digitale Assistenten verändern sich durch Reasoning-KI grundlegend. Statt einfache Routinen abzuarbeiten, entwickeln sie Strategien, setzen Prioritäten und reflektieren ihre Ergebnisse. Ein virtueller Projektmanager kann mehrere Teams gleichzeitig koordinieren, Ressourcen-Knappheiten rechtzeitig erkennen und schnell Umplanungen vorschlagen. Anders als herkömmliche Task-Manager agiert er nicht passiv, sondern denkt aktiv mit. Das bringt digitale Agenten näher an die Rolle echter Projektpartner. Sie begleiten Projekte nicht nur, sondern gestalten sie mit. Führungskräfte werden entlastet, weil Entscheidungen vorbereitet, Alternativen bewertet und Risiken frühzeitig sichtbar gemacht werden. Damit rückt die Vision eines digitalen Co-Managers, der auf Augenhöhe agiert, ein gutes Stück näher.
- Automatisierung
In der industriellen Praxis entfaltet Reasoning-KI den vielleicht sichtbarsten Vorteil. Während klassische Automatisierungssysteme oftmals schnell Probleme aufwerfen, sobald Prozesse von der Norm abweichen, reagiert Reasoning-KI äußerst flexibel. Beispielsweise führt ein defektes Bauteil in der Fertigungslinie nicht automatisch zum Stillstand. Stattdessen prüft die KI, ob Nachbearbeitung möglich ist, ob ein Austausch schneller wäre oder ob sich Teile des Prozesses vorübergehend umleiten lassen. Ähnliche Vorteile zeigen sich in der Logistik. Fällt ein Transportweg aus, kalkuliert die KI alternative Routen, vergleicht Kosten, Geschwindigkeit und ökologische Faktoren und schlägt die beste Option vor. Die Fähigkeit, verschiedene Szenarien gleichzeitig durchzurechnen und logisch gegeneinander abzuwägen, macht sie zu einem Game-Changer in einer Welt, die von Unsicherheit und Störungen geprägt ist.
Reasoning-KI im Einsatz
Für den Bereich der intelligenten Produktionsplanung implementierte ein europäischer Hersteller von Fertigteilbeton ein KI-gestütztes Planungssystem (Artificial Intelligence Planner), das „Reasoning-fähige Elemente“ beinhaltet. Herkömmliche Produktionsplanungssoftware scheitert häufig an kurzfristigen Änderungen, wenn beispielsweise Kunden ihre Bestellungen spontan ändern oder Lieferungen von Rohstoffen verspätet eintreffen.
Um für diese unvorhergesehenen Planänderungen rechtzeitig gewappnet zu sein, kombiniert die Reasoning-KI historische Daten, Echtzeit-Sensorinformationen mit externen Parametern (Lieferkettenrisiken, Wetterbedingungen, Transportkapazitäten etc.) und ist dadurch in der Lage, Alternativszenarien sehr schnell durchzurechnen.
Auf diese Weise lassen sich nicht nur Engpässe rechtzeitig vorhersagen, sondern auch eigenständig praktikable Lösungen vorschlagen, etwa die kurzfristige Umplanung von Arbeitsabläufen oder die Umverteilung von Maschinenressourcen. Dank der IT-Lösung durch Reasoning-KI ist das Unternehmen nun in der Lage, eine deutlich höhere Termintreue zu erzielen und die Anzahl der Produktionsausfälle erheblich zu reduzieren.
Vom Reagieren zur Proaktivität
Das verbindende Element all dieser Anwendungsfelder ist der Übergang von reaktiven zu proaktiven Systemen. Reasoning-KI folgt nicht mehr starren Wenn-dann-Regeln, sondern prüft, reflektiert, plant und entwickelt eigenständig Handlungsoptionen. Unternehmen erhalten damit Werkzeuge, die nicht nur ausführen, sondern mitdenken. Dieser Paradigmenwechsel verändert die Art, wie Unternehmen planen und Entscheidungen treffen, wie Mitarbeiter mit digitalen Assistenten interagieren und wie Produktions- und Lieferketten auf unvorhersehbare Ereignisse reagieren können.