Die Spannung steigt
Warum mehr Spannung?
Beim Gedanken an elektrische Antriebe erinnern sich viele an den Physikunterricht: Elektrische Leistung (Watt) ist gleich Spannung (Volt) mal Stromstärke (Ampere). Will man die elektrische Leistung erhöhen, hat man also zwei Möglichkeiten: die Stromstärke erhöhen oder die Spannung. Eine höhere Stromstärke bedingt allerdings proportional höhere Leitungsquerschnitte und damit mehr Kupfer, mehr Bauraum und mehr Gewicht. „Erhöht man hingegen die Spannung, bleiben die Leitungen schlank oder können ggf. sogar dünner werden“, erklärt Schaeffler-Experte Rösel. Und weiter: „800V-Systeme erlauben eine höhere Dauerlast des Antriebssystems beim Fahren und vor allem beim Laden.“
Nominalspannung – was ist das?
800 Volt beziffert die Nominalspannung bei danach benannten Antriebsystemen. Eine vollgeladene Batterie gibt hingegen sogar eine Spannung von 900 Volt oder knapp darüber ab, eine entladene Batterie stellt weniger als die Nominalspannung zur Verfügung. In den Fahrleistungen des E-Autos machen sich diese Abweichungen vom Nominalwert – wenn überhaupt – lediglich unter Volllast bemerkbar. Ansonsten sorgt die Leistungselektronik dafür, dass die abgerufene Leistung unabhängig von der anliegenden Spannung in dem vorgegebenen Fenster vorhanden ist.
Wo liegen die größten Vorteile?
Ganz klar: beim Laden. Denn noch mehr als beim Fahren kommt es beim Laden auf Power an. Zumindest beim Schnellladen. Moderne Schnellladesäulen sind auf bis zu 400 kW Ladeleistung ausgelegt. Diese hohe Ladeleistung ist nur mit 800 Volt nutzbar, da bei 400V-Systemen die zulässige Stromstärke von 500 Ampere deutlich überschritten würde. „Eben weil die höhere Spannung die Wärmeentwicklung reduziert, können 800V-Systeme auch mit solchen hohen Ladeleistungen besser umgehen“, weiß Rösel. Wobei selbst die ladefreudigsten Modelle aktuell unter 350 kW bleiben.
Was ist fahrzeugseitig wichtig, um die Spannung beim Laden nutzen zu können?
Höhere Ladeleistungen erhöhen den Ladestress der Batterien. Das gilt es, auszugleichen. „Die Zellchemie der Batterien, das Batteriemanagement und insbesondere das Thermomanagement, das für eine gleichmäßig gute Temperierung der Zellen sorgt und damit die Bildung sogenannter ‚Hot Spots‘ verhindert, müssen an die Ladeleistungen angepasst werden“, sagt Rösel, „sonst egalisieren sich die Geschwindigkeitsvorteile beim Laden, weil die Systeme die Leistung runterfahren.“ Geschieht dies nicht, wird die Batterie instabil und nimmt Schaden.
Warum setzen Fahrzeughersteller erst jetzt vermehrt auf 800 Volt?
Die Verdoppelung der Spannung erfordert eine potente Leistungselektronik, die zwei wichtige Aufgaben im Strommanagement übernimmt: die Gleichspannung der Batterie in Wechselstrom für den Antriebsmotor umwandeln und die Leistung der E-Maschine an die Fahrsituation anpassen. „Verdoppelt man bei dieser anspruchsvollen Doppelbelastung die Spannung, müssten stromflussregulierende Transistoren herkömmlicher Bauart überproportional wachsen, was wiederum den Wirkungsgrad deutlich schmälern und gewonnene Vorteile aufheben würde“, erklärt Rösel. „Die Lösung brachte die Einführung des deutlich leistungsfähigeren Werkstoffs Siliziumkarbid anstelle des bislang genutzten Siliziums. Damit war ein wesentlicher Baustein zur Spannungsverdoppelung von 400 auf 800 Volt vorhanden.“
Volle Spannung, volles Programm
Durch den Zusammenschluss mit Vitesco Technologies hat Schaeffler das E-Mobilitäts-Portfolio speziell im Bereich 800 Volt nochmals erweitert. Die technologische Bandbreite reicht von Batteriemanagement- und Ladesystemen über Leistungselektronik mit Wirkungsgraden von über 99 Prozent in definierten Lastbereichen bis hin zu hocheffizienten permanentmagneterregten Synchron- sowie Asynchron-Motoren, E-Achsen und Thermomanagementmodulen. Angeboten werden die Systeme sowohl für Pkw als auch Nutzfahrzeuge.
Wo liegen weitere Herausforderungen?
Der Spannungssprung auf 800 Volt bringt andere Isolations- und Absicherungsanforderungen mit sich. „Es müssen Luft- und Kriechstrecken berücksichtigt werden. Das heißt: Man benötigt größere Abstände zwischen Leitern auf einer Platine“, sagt Rösel. All das geht zulasten des eingesparten Bauraums und Gewichts.
Sind 800V-Systeme teurer?
Rösel sagt: „Man kann für 800V-Systeme nicht ins 400V-Regal greifen, muss also eigene Komponenten entwickeln. Das kostet zunächst.“ Außerdem, so sagt der E-Antriebs-Experte, seien die Siliziumkarbid-Leistungshalbleiter teurer als die Siliziumchips der 400V-Systeme, aber durch geringere Kabelquerschnitte etc. können bei der 800V-Variante wiederum Kosten eingespart werden. Eine Nullsummen-Rechnung, wie Rösel sagt: „Unterm Strich kostet das 800V-Teilepaket – zumindest, wenn man das Fahrzeugkonzept nicht rein auf Performance auslegt – ähnlich viel wie 400V-Systeme.“ Die Leistungselektronik für Performance-orientierte Fahrzeuge mit 800 Volt ist dagegen wegen der thermischen Belastungen von Motor und Leistungselektronik technisch aufwendiger und damit auch etwas kostenintensiver.“
Sind 800 Volt automatisch besser?
Nicht unbedingt, sagt Rösel: „Es kommt stark auf die Gesamtoptimierung eines Automobilkonzepts an. Die Spannung selbst ist nicht zwangsläufig das entscheidende Kriterium. Ein sehr gut ausgelegtes 400V-System kann eine sehr hohe Performance erreichen. Wer regelmäßig Langstrecke fährt und von schnellem Laden profitiert, zieht die größten Vorteile aus der höheren Spannung.“
„Viel wichtiger als der absolute Spannungswert ist es, die Systemauslegung gut zu beherrschen und thermisch sicher zu agieren.“
Was bringt die Zukunft?
Neben dem technisch Machbaren gibt es auch Normen, die Grenzen setzen. So lässt beispielsweise die EU-Gesetzgebung aktuell 1.500 Volt Maximalspannung zu, China hingegen „nur“ 1.000 Volt. Ladeleistungen durch eine weitere Spannungserhöhung zu steigern ist reizvoll. „Aber“, mahnt Rösel, „viel wichtiger als der absolute Spannungswert ist es, die Systemauslegung gut zu beherrschen und thermisch sicher zu agieren.“ Ladeleistungen von 500, 600 kW oder bis in den Megawatt-Bereich hinein erfordern im Fahrzeug ein technisch enorm aufwendiges Zusammenspiel aus Strom- und Spannungsschnittstelle sowie Batterie- und Thermomanagement. Auch die Zellchemie muss daraufhin optimiert werden, um eine Alterung der Batteriezellen bei Schnellladung zu begrenzen. Der technische Aufwand bei den Ladesäulen ist ebenfalls beträchtlich. Signifikant größere Nominalspannungen als 800 Volt sehe er wegen des besseren Kosten-Nutzen-Effekts, anderer Bauraumoptionen und Aspekten der Ladeinfrastruktur eher im Nutzfahrzeug-Bereich als beim Pkw. Fest steht für Rösel aber auch hier wie dort: „Jeder nennenswerte Spannungssprung wie beispielsweise aktuell vorgestellt auf 1.000 Volt setzt auch einen Entwicklungssprung bei den Halbleitern der Leistungselektronik voraus – mit entsprechend hohem Kostenaufwand.“ Gerade im Pkw-Bereich präferiert Rösel einen anderen Weg: „Viel wichtiger als ein weiterer Spannungssprung ist es, die 800V-Technologie in der Breite in den Markt zu bringen, gerade auch bei preiswerteren Fahrzeugen. Das würde der E-Mobilität insgesamt deutlich Auftrieb geben.“