Frankenstein hat abgedankt
„Frankenburger!“ schallte es durch die deutsche Medienlandschaft, als ich vor mittlerweile elf Jahren während einer Live-Übertragung aus London vor den Augen der Weltöffentlichkeit in das erste im Labor gezüchtete Burger-Patty beißen durfte. In der Stadt, in der kein geringerer als Winston Churchill 1931 über die „Absurdität, ein ganzes Huhn zu züchten, um die Brust oder den Flügel zu essen“ gesprochen hat und prophezeite, dass wir einst „diese Teile einzeln in einem geeigneten Medium heranziehen“ werden.
Die Autorin
Als Trendforscherin mit ihrem multidisziplinären Zugang zu Fragen der Ess- und Trinkkultur hat sich Hanni Rützler, Gründerin des futurefoodstudios in Wien, nicht erst seit ihrer legendären, weltweit live übertragenen Verkostung des ersten In-Vitro-Burgers 2013 in London weit über den deutschsprachigen Raum hinaus einen Namen gemacht. Seit mehr als 25 Jahren zeichnet sie der große Blick auf den Wandel unserer Esskultur aus sowie ihr Interesse an neuen, auch technologischen Entwicklungen und zugleich ihre Fähigkeit, auch unscheinbare Veränderungen wahrzunehmen und richtig – als Food Trends jenseits bloß saisonaler Modephänomene – zu verorten. Als Ernährungswissenschaftlerin und Gesundheitspsychologin nähert sich Hanni Rützler dem Thema Esskultur nicht nur theoretisch. Sie ist eine international gefragte Referentin sowie die Autorin des seit 2014 jährlich vom Zukunftsinstitut herausgegebenen Foodreports, der „in der Branche als Barometer dafür gilt, wie der Verbraucher tickt und was er will“, wie es der „stern“ formuliert.
Churchills Vision ist heute Realität geworden: Weltweit arbeiten zahlreiche Unternehmen an der Skalierung der Herstellung von in Bioreaktoren aus tierischen Zellen kultiviertem Fleisch. „Huber’s Butchery and Bistro“ in Singapur war das erste Restaurant, das Hühnerfleisch aus dem Labor auf der Karte hatte. Seit Mai dieses Jahres sind die von „Eat Just“ produzierten Nuggets für umgerechnet 5 Euro pro 100 Gramm in dem Geschäft zu kaufen. Die Geschäfte laufen gut, wie man hört. Die Furcht vor Frankenstein-Fleisch hat in Singapur jedenfalls abgedankt. Auch in Europa sehen viele, insbesondere jüngere Konsumenten und Konsumentinnen in „Cultured Meat“ kein Horrorszenario mehr, sondern betrachten es zunehmend durch die Brille wirtschaftlicher Pragmatik oder klima- und umweltbewusster Vernunft.
Fleisch und Fisch in Bioreaktoren zu produzieren ist vielleicht die spektakulärste Technologie, von der sich die Protagonisten versprechen, die Welt angesichts wachsender Bevölkerung und des fortschreitenden Klimawandels, der der traditionellen Landwirtschaft zunehmend zusetzt, auch in Zukunft ausreichend ernähren zu können. Nüchtern betrachtet wird sie die traditionelle Fleischproduktion zwar nicht gänzlich ersetzen, aber sie könnte massiven Druck aus der Viehwirtschaft nehmen, den weltweit immer noch steigenden Fleischhunger zu stillen. In Europa, wo der Fleischkonsum langsam, aber stetig zurückgeht, könnte In-vitro eine Rückkehr zu einer extensiven, also naturschonenderen Viehzucht unterstützen. Mehr Tierwohl, höhere Biodiversität und bessere Fleischqualität inbegriffen.
Technologien auf dem Teller
Agrotechniker und Lebensmitteltechnologinnen arbeiten weltweit aber an vielen weiteren neuen oder verbesserten Technologien, die unsere Lebensmittelproduktion in den kommenden Jahrzehnten radikal verändern werden. Nicht nur in Bioreaktoren, sondern auch auf den Feldern – mit KI-gestützten Systemen zur präzisen Bewässerung und Düngung sowie gezielter Schädlingsbekämpfung. Nicht zuletzt eröffnet die sogenannte Genschere „CRISPR-Cas9“ die raschere Züchtung von Nutzpflanzensorten, die sich besser an veränderte klimatische Bedingungen anpassen. Und auch bei dieser Technologie ist der Frankenstein-Aufschrei fehl am Platz. Die erwünschten Merkmale werden bei der CRISPR-Mutation nur schneller und gerichteter erreicht als bei klassischen Züchtungsmethoden.
Künstliche Kulturen für eine neue Esskultur
Das vielversprechendste Stichwort aber heißt Präzisionsfermentation. Dabei handelt es sich um ein biotechnologisches Verfahren, bei dem Mikroorganismen so programmiert werden, dass sie fast jedes beliebige komplexe organische Molekül wie Proteine, Fette oder Vitamine produzieren können. Die fortschreitenden Erkenntnisse auf diesem Gebiet werden in Zukunft zu geschmacklich noch viel besseren, sprich dem Tierischen noch ähnlicheren Ergebnissen führen und die veganen Fleisch-, Fisch- und Käseersatzprodukte, die als „Plant based Food“ heute am Markt sind, ergänzen und bereichern. So nutzt etwa das deutsche Start-up „formo“ diese Technologie, um mithilfe von Hefezellen Milchproteine nachzubilden, auf deren Grundlage naturidentischer Käse hergestellt werden kann. Noch fehlt die lebensmittelrechtliche Zulassung, mit der aber aller Voraussicht nach bald zu rechnen ist. Gerade erst hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) das durch Präzisionsfermentation gewonnene Häm (Soja-Leghämoglobin) des Herstellers „Impossible Foods“ als sicher für den Verzehr eingestuft . Soja-Leghämoglobin ist unter anderem für die berühmte „blutende“ fleischähnliche Farbe von Rindfleischersatzprodukten des US-amerikanischen Unternehmens verantwortlich.
Mikroben und die daraus erzeugten Nährstoffe könnten also schon in wenigen Jahren – neben Cultured Meat und Fisch sowie pflanzen-, insekten-, algen- und pilzbasierten Lebensmitteln – zu einer wichtigen Säule für die Produktion proteinreicher Lebensmittel werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im großen Maßstab weniger energie- und ressourcenintensiv ist und auch weniger CO₂ ausstößt. Präzisionsfermentation kann zudem lokal und unabhängig von klimatischen Bedingungen erfolgen. Und sie kann auch der skalierbaren Produktion von kultiviertem Fleisch auf die Sprünge helfen, für die sie kostengünstige Nährmedien herstellen kann, die für das Zellwachstum essenziell sind.
Dass auch In-vitro-Fleisch bezüglich Treibhausgasemissionen und Wasserverbrauch höchstwahrscheinlich besser abschneidet als traditionell produziertes Fleisch und durch den geringen Landverbrauch Platz für Ackerflächen frei wird, die heute noch zu einem großen Anteil für den Anbau von Tierfutter verwendet werden, sind – neben tierethischen Gründen – zentrale Argumente, die für kultiviertes Fleisch sprechen. Offen freilich ist noch die Frage, wie der hohe Energieverbrauch der Bioreaktoren minimiert werden kann und ob und wann die produzierte Menge an erneuerbarer Energie den insgesamt steigenden Bedarf nachhaltig decken kann.
Zwischen Go und No Go
Widerstände gegen „Cultured Meat“ kommen heute vor allem von Interessensvertretern der traditionellen Tierhaltung und konservativen und rechten Politikern, die im „Namen der heimischen Kultur und zum Schutz der Landwirtschaft“ ein Verbot der Herstellung und des Vertriebs von kultiviertem Fleisch fordern oder – wie in Italien und Florida – bereits umgesetzt haben. Sie verkennen dabei aber auch das Potenzial dieser Technologie, Kultur und Landwirtschaft zu schützen, indem sie Landwirten wieder die Möglichkeit eröffnet, von der industriellen Massenproduktion Abschied zu nehmen, die Bodenerosion und Tierleid inkludiert, oder – in vielen Ländern des globalen Südens – vom monokulturellen Anbau pflanzlicher Bestseller wie beispielsweise Kakao, Kaffee, Bananen oder Avocados, die nur für den internationalen Markt erzeugt werden und nicht der Selbstversorgung der Bauern und des Landes dienen.
Für produktive Synergien zwischen Low- und High-Tech-Lösungen verschließen aber sowohl die Befürworter der einen als auch der anderen Seite meist die Ohren. Statt gegen neue Technologien in der Lebensmittelproduktion zu mauern, wären landwirtschaftliche Interessenvertreter besser beraten, ihre Klientel bei der Umstellung auf hochwertige und vielfältige pflanzliche Produkte für die menschlicher Ernährung zu unterstützen und damit auch den Wandel der Esskultur hin zu einer pflanzlich orientierten, gesünderen Ernährung zu fördern – also anstatt Tierfutter für den Trog anzubauen lieber mehr Obst und Gemüse für den Teller zu produzieren.
Das Ziel einer weitgehenden Ökologisierung der traditionellen Landwirtschaft und damit einhergehend der Regeneration der Biodiversität wird auch in Europa ohne innovative Technologien und neue Denkansätze kaum zu erreichen sein. Ein Blick nach Deutschland zeigt das Dilemma auf: Dort rechnet Greenpeace in seinem Kursbuch „Agrarwende 2050“ vor, dass die Erträge der deutschen Landwirtschaft bei kompletter Umstellung auf biologischen Landbau um durchschnittlich 40 Prozent zurückgehen würden. Um diese Ertragslücke auszugleichen, müssten im Schnitt 27 Prozent mehr Naturfläche in landwirtschaftliche Nutzfläche umgewandelt werden, was nicht nur dem Europäischen Green Deal diametral entgegenstehen würde, sondern auch praktisch kaum realisierbar ist.
Das große Potenzial der „zellulären Landwirtschaft“
Cultured Meat ist also eine Option, auch in Zukunft tierische Proteine zu leistbaren Preisen und ohne schlechtes Gewissen genießen zu können; mit Betonung auf Zukunft. Denn um Fleisch aus dem Bioreaktor in großen Mengen und zu günstigen Preisen herzustellen, sind noch zahlreiche technische und rechtliche Hürden zu nehmen.
„Wir haben Tiere und Pflanzen domestiziert, und jetzt sind wir dabei, nächste Schritte zu gehen – und domestizieren Zellen.“
Tilo Hühn, Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Das betrifft übrigens nicht nur tierische Zellen. Domestizieren lassen sich auch pflanzliche. Zum Beispiel jene der Avocado oder der Kakaobohne, um daraus jene Produkte zu erzeugen, die wir aus diesen Früchten am liebsten herstellen: Guacamole und Schokolade. Denn dafür braucht es keine ganzen Früchte, sondern bloß ein Slurry, also einen Zellbrei. Noch ist diese an der Zürcher Hochschule entwickelte Technologie nicht marktreif, aber gerade diese beiden Beispiele zeigen anschaulich das große Potenzial der „zellulären Landwirtschaft“, die Welternährung angesichts zunehmender Bevölkerung und voranschreitendem Klimawandel auch in Zukunft sichern zu können. Denn gerade die Regionen, in denen die meisten Avocados und Kakaobohnen heute geerntet werden, leiden besonders unter Klimaveränderungen.
Tilo Hühn, Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, bringt es schön auf den Punkt, wenn er sagt, wir Menschen haben „Tiere und Pflanzen domestiziert, und jetzt sind wir dabei, nächste Schritte zu gehen – und domestizieren Zellen.“