Keine schöne neue Welt
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Juli 2018

Keine schöne neue Welt

Die Stadt in der Science-Fiction-Literatur macht nur bedingt gute Laune: In den meisten Romanen lebt man beengt in verschmutzten Megacitys, anstatt auf dem Mars Blumen zu pflücken. Warum eigentlich?

„Soeben beginnt ein glücklicher Tag im Jahr 2381. Die Morgensonne steht schon hoch genug, um die obersten fünfzig Stockwerke von Urban Monad 116 zu berühren.“

Mit diesen Sätzen beginnt der Roman „Ein glücklicher Tag im Jahr 2381“ von Robert Silverberg, 1971 schrieb er ihn – und selbst, wenn man das Buch nicht gelesen hat, ahnt man, dass der schöne Schein trügt. Beim „Urban Monad 116“ handelt es sich um ein drei Kilometer hohes Gebäude, in dem Hunderttausende von Menschen hausen, die es bis zu ihrem Tod nicht mehr verlassen werden. Sollte einer von ihnen auf die Idee kommen, dass es doch herrlich wäre, einmal das Meer zu sehen, wird er wegen „antisozialen Verhaltens“ verurteilt. Den Rest kann man sich denken.

Postapokalyptische Welten

Eine wenig beglückende Vision zukünftigen Zusammenlebens im urbanen Raum und recht typisch für die städtischen Entwürfe, die Science-Fiction-Autoren seit Anbeginn des Genres zeichneten. Folgt man ihren Ideen, werden folgende Generationen zumeist in einer postapokalyptischen Welt unter einem totalitären Regime leben, in klaustrophobischen Megacitys, unter der Erde wie in Hugh Howeys „Silo“ oder wie bei Isaac Asimov unter Kuppeln, in winzigen „Conaps“ wie bei Philip K. Dick oder in zeltähnlichen „Hotellos“ wie bei Kim Stanley Robinson. Keine schöne Vorstellung, keine schöne neue Welt. Da kann man schon einmal die schlichte Frage stellen, warum die Mehrheit der Romanciers die Zukunft der Metropolen so schwarzmalt.

Es gibt keine verschlossenen Türen in Urbmon 116. Nachts ist es erlaubt und üblich, andere Wohnungen zu betreten.

aus „Ein glücklicher Tag im Jahr 2381“

Sicherlich liegt es nahe zu vermuten, dass Erzählungen über die Zukunft die Ängste der Gegenwart spiegeln. In den 70er-Jahren wuchs die Erkenntnis über Bevölkerungsentwicklung, Industrialisierung, Umweltverschmutzung und Ressourcenzerstörung. 1972 stellte der Club of Rome seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ vor, im gleichen Jahr fand die Weltumweltkonferenz der Vereinten Nationen statt, die als der Beginn der internationalen Umweltpolitik gilt. Darauf folgten Initiativen der Zivilbevölkerung, Änderungen in der Gesetzgebung, ein direkter Einfluss auf den Städtebau – und auf die Fantasie von Autoren, die in den 70ern geradezu in Dystopien schwelgten. Womit natürlich nicht erklärt wäre, warum H. G. Wells und Jules Verne schon zu ihren Lebzeiten Luftverschmutzung, Kommerzialisierung und Wohnungsnot beschrieben.

Die Stadt als perfekte Kulisse für Zukunft

Wahr ist: Seit der Industrialisierung ist die Stadt die perfekte Kulisse, um die Folgen der Automatisierung darzustellen. Aber auch den technischen Fortschritt! Jules Verne fantasierte 1863 über „Gas-Cabs“, vier Jahre zuvor hatte Étienne Lenoir den Gasmotor zum Patent angemeldet. So gesehen funktionalisieren Science-Fiction-Autoren die Metropole. Als Kritik an der Gegenwart, als Mittel der Handlung – und als Möglichkeit, Erfindungen und Entwicklungen zu Ende zu denken. Leider ist das nur meist kein erbauliches Ende.

Wobei man auch erwähnen sollte, dass die Übertreibung zum Science-Fiction-Genre gehört wie das Grauen zur Horror-Literatur. „Narrative Konflikt- und Spannungserzeugung“ lautet die wissenschaftliche Formulierung dafür, allerdings könnte man auch ganz simpel formulieren: Katastrophen machen einfach mehr Spaß. Besonders in der Stadt. Ein paar Beispiele folgen unten …

​Der Rest des Hauses war von Wolken umschwebt. Auf einer dieser Wolken stand in Projektionsschrift: Elektropolis – die automatische Stadt! Vorsicht, Hochspannung!

aus Erich Kästners „Der 35. Mai“
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Science-Fiction-Citys
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Los Angeles
„Flucht ins 23. Jahrhundert“ (1967)

Autoren William F. Nolan, George Clayton Johnson
So sieht es dort aus Wir befinden uns im Jahr 2116 – und nein, im Buch liegt die Stadt nicht unter Kuppeln wie in der Verfilmung von 1976. Was es gibt: Wohn- und Vergnügungskomplexe, dazu sind die Viertel durch „Express-Steige“ verbunden. Die Einwohner bewegen sich meist zu Fuß fort, können aber unterirdisch in „fantastischen Geschwindigkeiten“ um die Welt reisen. Natur ist insofern existent, als dass der außerstädtische Raum als Fluchtort vor totalitärer Herrschaft dargestellt wird.
Möchte man hier wohnen? Prinzipiell ja, zumal die Menschen in einer Wohlstandsgesellschaft leben. Allerdings werden sie mit 21 Jahren eliminiert, um der Überbevölkerung Einhalt zu gebieten. Im Film beträgt die Lebensspanne immerhin 30 Jahre – dann wird man in einem Ritual namens „Karussell“ verdampft.

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Oklahoma City
„Ready Player One“ (2011)

Autor Earnest Cline

So sieht es dort aus Kurz gesagt: trostlos. Der Großteil der Bevölkerung lebt 2044 aufgrund einer Energie- und Wirtschaftskrise in Armut, in Oklahoma City wohnt man in gestapelten Wohnwagen, „Stacks“ genannt, und verbringt seine Lebenszeit fast ausschließlich in der virtuellen Realität. Eine digitale Wunderwelt, in der man spielen und arbeiten kann – aber auch lernen. So dient die OASIS (Ontologically Anthropocentric Sensory Immersive Simulation) als kostenloses Bildungssystem, weil die staatlichen Instanzen nicht mehr funktionieren.
Möchte man hier wohnen? Nein.

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New York
„Die Stahlhöhlen“ (1953)

Autor Isaac Asimov

So sieht es dort aus Zu Beginn des 30. Jahrhunderts haust die Mehrheit der acht Milliarden Menschen beengt in semi-autarken Kuppelstädten („Stahlhöhlen“). In New York leben über 20 Millionen Einwohner – und zwar von Hefe, die auch als Energiequelle dient. Autos gibt es nicht, dafür ist die Stadt von Express- und Localways durchzogen, das sind Förderbänder mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Ein beliebter und gefährlicher Spaß unter Jugendlichen ist das „Streifenlaufen“, eine Art Rennen auf den Bändern. Im Weltraum wiederum leben die sogenannten „Spacer“ in einer hoch technisierten Parallelgesellschaft.
Möchte man hier wohnen? Wenn, dann im Weltraum, da auf den besiedelten Planeten jede Familie eine eigene Kuppel bewohnt, außerdem können die Menschen dort bis zu 350 Jahre alt werden.

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Elektropolis
„Der 35. Mai“ (1931)

Autor Erich Kästner

So sieht es dort aus Erich Kästner beschreibt in seinem Kinderbuch die Stadt Elektropolis erschreckend vorausschauend: Es gibt Handys („Taschentelefone“), selbstfahrende  Autos, – das „Lenkverfahren beruht auf einer sinnreichen Koppelung eines elektromagnetischen Feldes mit einer Radiozentrale“ – und autonom fahrende Züge. Nachrichten werden in den Himmel projiziert, Bürgersteige dienen als Laufbänder. Zudem steht am Stadtrand eine vollautomatische „Viehverwertungsstelle“, in die vorne Kühe reingesogen werden – hinten fallen Leder- und Milchprodukte heraus.
Möchte man hier wohnen? In Kästners Welten möchte man eigentlich immer wohnen. Sogar in dieser, immerhin wurde das Geld abgeschafft und keiner muss arbeiten.

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Arrakeen
„Der Wüstenplanet“ (1965)

Autor Frank Herbert

So sieht es dort aus Die Stadt Arrakeen auf dem recht lebensfeindlichen Planeten Arrakis ist auf Felsgestein gebaut und durch eine Bergformation geschützt, um eine Invasion der dort lebenden Riesenwürmer zu verhindern. Das gesamte Leben auf dem Planeten ist darauf ausgerichtet, Wasser zu gewinnen und zu bewahren. Abgesehen davon baut man dort „Spice“ ab, eine bewusstseinsverändernde Droge.
Möchte man hier wohnen? Vielleicht, wenn man eine Vorliebe für Sand hat.

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Urbmon
„Ein glücklicher Tag im Jahr 2381“ (1971)

Autor Robert Silverberg

So sieht es dort aus Die „Urbmons“, kurz für „Urban Monads“, sind kegelförmige Hochhäuser, in denen Millionen von Menschen wohnen, die sie während ihrer Lebenszeit meist nicht verlassen – wobei Schnellboote zwischen den Gebäuden pendeln. „Urbmon 116“ ist beispielsweise drei Kilometer hoch, hier leben 800.000 Menschen. Ein Computer regelt die technische Infrastruktur, Abfall und Abwasser werden recycelt. Die Nahrung für die Bewohner wird in Agrarkommunen angebaut und in Kurierkapseln in die „Urbmons“ gebracht. Auch hier gilt: Je höher man wohnt, desto bedeutender ist der Rang in der Gesellschaft.
Möchte man hier wohnen? Wie man’s nimmt. Die Gesellschaft ist auf maximale Fortpflanzung ausgelegt, Bewohner mit „antisozialen Tendenzen“ (dazu gehört der Wunsch nach frischer Luft) werden in den Schacht geworfen.

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London
„Von kommenden Tagen“ (1933)

Autor H. G. Wells

So sieht es dort aus England hat im 22. Jahrhundert nur noch vier Megacitys mit glasartigen Klimahüllen und darauf rotierenden Windrädern. London zählt 33 Millionen Einwohner. Rollstraßen befördern die Städter von A nach B, es gibt in den Straßen akustische Werbung, der arbeitende Teil der Bevölkerung wohnt in den unteren Bereichen der Stadt, manche müssen in die „Tretmühle“, um Strom zu erzeugen.
Möchte man hier wohnen? Der Satz „Die Stadt hatte die Menschheit verschluckt“ lässt nicht darauf schließen.

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Kapitol
„Tribute von Panem“ (2008–2010)

Autorin Suzanne Collins

So sieht es dort aus Das Kapitol ist die Hauptstadt von Panem und liegt westlich der Rocky Mountains. Der Rest des Landes ist in 13 Distrikte eingeteilt, die das Kapitol mit Rohstoffen versorgen. Die Architektur (und die Lebensweise der Oberschicht, die ausschließlich im Kapitol wohnt) könnte man als moderne Adaption des antiken Rom verstehen. Die 96.463 Einwohner sind vorwiegend mit ihrem dekadenten Lebensstil beschäftigt, dabei handelt es sich um eine Hightech-Gesellschaft mit genmodifizierten Tieren, Kraftfeldern oder Hochgeschwindigkeitszügen.
Möchte man hier wohnen? Wenn man eine Vorliebe für Völlerei und Gladiatoren hat, durchaus.

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Paris
„Paris im 20. Jahrhundert“ (1863)

Autor Jules Verne

So sieht es dort aus Jules Verne schreibt 1863 über die französische Hauptstadt in 100 Jahren: 1960 fährt man mit S-Bahnen, die mit Pressluft angetrieben werden, es gibt so genannte „Gas-Cabs“ mit bis zu 30 PS und ein Sprichwort: „In Paris gibt es keine Häuser mehr, es gibt nur noch Straßen!“ Sprich: Der Wohnraum ist knapp. Überraschend ist, mit welcher Hellsichtigkeit Jules Verne bereits zu seiner Zeit über Luftverschmutzung schreibt und nebenbei einen Defibrillator, Faxgeräte oder gigantische Rechenmaschinen erwähnt.
Möchte man hier wohnen? Wenn es nach Jules Verne geht, eher nicht. „Die Französin“, befindet der Autor, „ist zur Amerikanerin geworden.“

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New York
„New York 2140“ (2018)

Autor Kim Stanley Robinson

So sieht es dort aus Im Jahr 2140 ist – bedingt durch den Klimawandel – der Meeresspiegel um 15 Meter angestiegen, nur noch die Spitzen der Wolkenkratzer ragen aus dem Wasser, verbunden durch Hochbrücken. Es gibt Gewächshäuser und Farm-Etagen, Gebäude haben photovoltaische Anstriche, Fracht-Zeppeline schweben über den Himmel, fliegende Gemeinden hängen an Ballons, schwimmende Städte kreuzen auf den Meeren. Durch New York bewegt man sich mit „Vaporetto“-Wasserbussen oder Privatbooten. Auch hier ist der Wohnraum knapp, Menschen leben in faltbaren Zimmern namens „Hotellos“.
Möchte man hier wohnen? Offen gestanden ja, weil die Beschreibung der „Skimmer“ zu schön ist: Sie gleiten auf Surfbrettern über die Flutwellen in den Straßen.

Wiebke Brauer
Autor Wiebke Brauer
Die Hamburgerin Wiebke Brauer ist nicht nur eine überzeugte Großstadtpflanze, sondern auch ein bekennender Junkie des ­Science-Fiction-Genres – schon als Kind gruselte sie sich aufs Angenehmste bei Filmen wie „Soilent Green“. Was ihr beim Lesen der Bücher für diese Geschichte auffiel: dass sich (zu ihrem Bedauern) die oft beschriebene Idee des Laufband-Bürgersteigs bislang nicht durchgesetzt hat.