Der lange Weg zur modernen Stadt
© Colin Anderson & Don Smith/Getty
Juli 2018

Der lange Weg zur modernen Stadt

Die Verstädterung der Welt hat vor 10.000 Jahren begonnen. Seitdem versucht der Mensch die damit verbundenen Herausforderungen zu meistern. Ein kurzer Rundgang durch die Stadtentwicklung an den Beispielen Hygiene, Bildung und Industrie im Wandel der Epochen.

Der Urgrund, warum Menschen sich auf Dauer niederließen und sich Städte entwickelten, findet sich – auf dem Land. Mit der Fähigkeit, Ackerbau und Tierzucht zu betreiben, konnte man viele Menschen an einem Ort ernähren. Der Mensch wurde sesshaft. Siedlungen entstanden, wuchsen und wurden zu Städten. Aber mit den Bevölkerungszahlen vergrößerten sich auch die Probleme. Johann Peter Frank, Arzt im deutsch-französischen Grenzgebiet, sagte 1790 den berühmten Satz: „Der größte Teil der Leiden, die uns bedrücken, kommen vom Menschen selbst.“ Dazu gehören auch Müll, Dreck und Krankheiten.

Der lange Weg zur modernen Stadt© Wikipedia
11 Aquädukte

versorgten Rom im 2. Jahrhundert n. Chr. mit frischem Wasser. Hauptabwasserleitung war die Cloaca Maxima, ein 3 Meter breiter, 4 Meter hoher und bis heute erhaltener Kanal, der – wie auf der Zeichnung zu sehen – in den Tiber mündete. Auch andere römische Siedlungen wie Köln, Trier oder Xanten verfügten über ein ähnliches Be- und Entwässerungssystem.

In manchen der frühen Hochkulturen existierten bereits Wasserversorgungs- und Kanalsysteme – Errungenschaften, die später auch viele der Städte der griechischen und römischen Antike kennzeichneten. Die alten Sumerer im heutigen Irak sollen sogar schon über Toilettenräume mit Wasserspülung verfügt haben. Im Mittelalter ging das Wissen der Antike jedoch vielfach wieder verloren. In seinem Fachbeitrag „Hygiene und Öffentliche Gesundheit“ führt Martin Exner aus, dass die durchschnittliche Lebenserwartung zu Beginn des 20. Jahrhunderts rund 45 Lebensjahre betrug – was ungefähr der Lebenserwartung eines Römers vor 2.000 Jahren entsprach. Das zeigt, wie weit man in der Antike in Sachen Hygiene war.

Stadt und Hygiene – lange zwei Gegensätze

Wer sich die Verhältnisse mittelalterlicher Städte anschaut, wundert sich nicht über die geringe Lebenserwartung. Ob Edelmann oder Dienerschaft – Hygiene und Körperpflege werden sträflich vernachlässigt. Das Vieh lebt meist mit in den vier Wänden. Sauberes Wasser gibt es kaum, und dem Irrglauben folgend, Wasser könne über die Poren in die Haut eindringen und so für schwere Krankheiten sorgen, reduziert man das Waschen auf ein Minimum. Die Folgen der mangelnden Hygiene sind Seuchen wie Pest, Pocken oder Cholera.

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Anno 1596

erfand John Harington im Auftrag von Königin Elisabeth I. die erste Spültoilette. Seine Mitbürger hielten die ungewohnte Apparatur allerdings für einen Scherz, so geriet die Erfindung fast 200 Jahre in Vergessenheit.

Erst ab dem Hochmittelalter kehren Be- und Entwässerungstechniken langsam in die Städte zurück. 1596 ersinnt der Engländer Sir John Harington die revolutionäre Konstruktion einer Toilette mit Spülkasten und Ventilverschluss – der Startschuss für die moderne Sanitärtechnik, der  jedoch lange ungehört bleibt. Besonders die einfache Bevölkerung lebt noch lange unter schlimmen Verhältnissen. Johann Peter Frank schreibt im 18. Jahrhundert: „In sehr vielen Häusern fehlt es an Abtritten gänzlich, und man bedient sich gewisser Behältnisse für jede Familie, solange als möglich ist. Der Sammelplatz aller Ausleerungen ist entweder in einer, in dem engen Hofe eingeschlossenen Miststätte, oder wohl gar die öffentliche Straße.“

Erst im 19. Jahrhundert werden in vielen Metropolen strengere Vorgaben erlassen. Dennoch leben laut Weltgesundheitsorganisation WHO heute noch 2,3 Milliarden Menschen ohne sanitäre Grundversorgung. In den Armenvierteln dieser Erde sind Plastiktüten ein beliebter, aber schlechter Toilettenersatz. Die Beutel landen am Straßenrand oder auf Hausdächern. Das ist letztendlich lebensgefährlich: Jährlich sterben 3,5 Millionen Menschen an Durchfallerkrankungen. Eine sanitäre Grundversorgung zu schaffen ist eine der dringlichsten Herausforderungen wachsender Metropolen in ärmeren Regionen.

3 Cent

kostet der in Schweden erfundene Toiletten-Beutel „Peepoo“. Selbst für Slumbewohner ist die wasserlose Wegwerf-Toilette damit erschwinglich. Eine chemische Mischung in der Tüte tötet alle Keime ab und verwandelt die menschlichen Ausscheidungen innerhalb weniger Wochen in Dünger. Dieser ist dank seiner Nützlichkeit in der Landwirtschaft sogar verkäuflich. Die Hülle selbst löst sich innerhalb eines Jahres rückstandsfrei auf.

Bildung ist ein Kind der Stadt

Wenden wir uns einem anderen Aspekt urbanen Lebens zu: der Bildung. Die Idee der Schule ist älter, als man denken mag. Die erste bekannte Erwähnung befindet sich auf einer ägyptischen Grabinschrift, die vor etwa 4.000 Jahren verfasst wurde. In antiken Städten entstehen ganze Bildungssysteme: Lehrer in römischen Metropolen unterrichten gegen Entgelt auf Marktplätzen oder Hinterhöfen sowie privat in den Gemächern reicher Bürger. Dabei geht es oft nicht sehr zimperlich zu: Bekannt sind die Schulerinnerungen des Dichters Horaz, der beschreibt, dass sein Lehrer Orbilius Pupillus durchaus „freigiebig in Sachen Prügel“ war.

Trotz dieses frühen Bildungssystems ist man von einer flächendeckenden Schulbildung weit entfernt. Schätzungen gehen von einem Zehntel der Bevölkerung aus. Und die Zahl sinkt mit dem Niedergang Roms drastisch. Im Mittelalter sind Städte nicht mehr die Hauptorte der Gelehrsamkeit. Die ist vor allem in den Klöstern zu finden, wo die antiken Bibliotheken gehortet werden. Davon zeugen etwa die über 2.000 Handschriften, die in der im 8. Jahrhundert gegründeten Stiftsbibliothek St. Gallen in der Schweiz die Zeiten überdauerten. Erst als im ausgehenden Mittelalter neue Städte gegründet und die Ideen der Antike wiederentdeckt werden, beginnt sich der Stellenwert der Bildung erneut zu wandeln. In vielen Städten werden Gymnasien und Universitäten gegründet.

Druckkunst erblüht in der Stadt

Wichtigster Wegbereiter ist ein Mainzer Kaufmannssohn. Johannes Gutenberg entwickelt Mitte des 15. Jahrhunderts eine Methode, mit der Drucklettern schnell einzeln gegossen und arrangiert werden können – eine Erfindung, die die Menschheit in eine neue Epoche katapultiert und die Städte vollends wieder zu den Zentren der Gelehrsamkeit macht. Bis zum Jahr 1500 gibt es bereits 252 Städte mit Druckereien. Hier werden Bücher, später Zeitungen hergestellt, hier finden sie den Großteil ihrer Leserschaft. „Wenn das Fernrohr das Auge war, das den Zugang zu einer Welt neuer Tatsachen eröffnete und zu neuen Methoden, um diese Tatsachen zu ermitteln, dann war die Druckpresse das Stimmband“, bringt es US-Medienwissenschaftler Neil Postman auf den Punkt.

Die Bildung sollte in weiterer Folge ihre Systematisierung erfahren. Ausgangspunkt sind vielfach städtische Universitäten. Johann Amos Comenius, ein tschechischer Pädagoge, der unter anderem in Heidelberg studierte, tritt im 17. Jahrhundert erstmals für eine verpflichtende Schule für alle ein, ungeachtet von Herkunft oder Geschlecht. Die Idee macht Karriere. Österreichs Kaiserin Maria Theresia führt bereits 1774 die Unterrichtspflicht ein. Allen Verordnungen der Landesfürsten zum Trotz werden aber erst im Laufe des 19. Jahrhundert alle Kinder von der Schule erreicht – und das in der Stadt deutlich besser als auf dem Land, wo in einklassigen Dorfschulen ein Lehrer bis zu 100 Schüler unterschiedlichen Alters unterrichtet. Auch ist der Lehrstoff in der Stadt vielfältiger. Noch immer gibt es heute laut der Bildungsstudie PISA in fast allen Ländern auf der Welt ein Stadt-Land-Bildungsgefälle. Ein größeres und verlässlicheres Lehrangebot und ein vielfältigeres kulturelles und soziales Umfeld sprechen laut PISA für die Stadt.

1.421 Jahre

alt ist die älteste Schule der Welt, an der durchgehend bis heute unterrichtet wird. Dabei handelt es sich um die King’s School in der englischen Stadt Canterbury.

Die vor allem in den Städten vorangetriebene Bildungsoffensive im 18. und 19. Jahrhundert  macht sich spätestens bezahlt, als im Zuge der Industrialisierung mit den aufkommenden Fabriken ein hoher Bedarf an Facharbeitern entsteht. Bildungseinrichtungen haben sich über die Jahrhunderte zu einem wichtigen Teil städtischer Identitäten entwickelt: Der Hightech-Standort des Silicon Valley etwa entstand ursprünglich als Stanford Industrial Park gleich neben der bekannten kalifornischen Universität. Viele Absolventen gründeten hier Firmen.

Nachbar Smog

Ein dritter Aspekt, ohne den moderne Städte nicht denkbar sind, ist ihre Prägung durch die bereits angesprochene industrielle Revolution. Die Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert macht die Produktion unabhängig vom Rohstoffstandort und holt sie in die Städte – Millionen arbeitssuchende Landbewohner folgen ihr. Die Einwohnerzahl Londons schnellt im 19. Jahrhundert von einer Million Einwohner auf das Siebenfache. Elendsviertel entstehen. Die Stadt wird schmutzig und laut. „Ein dichter, schwarzer Qualm liegt über der Stadt. Durch ihn hindurch scheint die Sonne als Scheibe ohne Strahlen. Tausende Geräusche ertönen unablässig in diesem feuchten und finsteren Labyrinth“, beschreibt der Franzose Alexis de Tocqueville die Industriestadt Manchester der 1830er-Jahre. Schlote qualmen, Güterzüge stampfen durch Wohngebiete, die Fabrik wird zum Nachbarn. Auch entwickelt die Stadt durch die Industrialisierung ein anderes Zeitgefühl, als man es auf dem Land gewohnt ist. Nicht mehr Sonnenauf- und -untergang geben den Rhythmus vor, Unternehmer setzen mithilfe von minutiösen Zeitplänen und Aufsehern ihre Vorstellungen von Pünktlichkeit durch. Und noch heute gilt die Weisheit: Auf dem Land ticken die Uhren anders.

Schornsteine um Schornsteine wachsen in den Blütejahren der Industrialisierung in den Himmel – und soziale Gräben werden breiter: „Während immer mehr ärmere Menschen in die Stadt kamen, zog das reiche Bürgertum an den Stadtrand“, erklärt Bernd Kreuzer, der sich an der RWTH Aachen mit Technologiegeschichte beschäftigt. „Gute“ und „schlechte“ Stadtviertel entstehen. „Man kann heute in vielen europäischen Städten sehen, dass in den westlichen Stadtbezirken die besseren Wohngegenden liegen. Der Grund dafür ist, dass die vorherrschenden Wetterlagen die Abgase in den Osten der Stadt bliesen.“

Der lange Weg zur modernen Stadt
Die britische Industriestadt Stoke-on-Trent im Jahr 1946: Fabrikschlote nebeln die benachbarten Wohngebiete ein. Ein typisches Stadtbild seit Beginn der Industrialisierung. Erst ab den 1960er-Jahren zieht die Industrie in eigene Gebiete vor der Stadt© Getty
Was getrennt wurde, wächst wieder zusammen

Im 20. Jahrhundert werden die Städte noch radikaler strukturiert. „Waren zuvor Gewerbe, Produktion und Wohnbau bunt durchmischt, sah die zentrale städtebauliche Idee der Moderne eine strikte Trennung der Stadtbereiche nach Funktionen vor“, erläutert Kreuzer. Die Wege zwischen Wohngegenden, Industriegebiete und Büroviertel werden mit einer im wahrsten Sinne bahnbrechenden Erfindung überwunden – dem Auto.

Die technische Entwicklung macht die Stadtluft wieder sauberer. Gesetzliche Umweltschutzvorgaben gibt es ab den 1960er-Jahren. Allein in den USA werden zwischen 1969 und 1979 neben 27 Gesetzen auch Hunderte von Verordnungen zum Umweltschutz verabschiedet. In vielen Industriestaaten wird der Schwefeldioxid-Ausstoß heruntergefahren, um sauren Regen und Waldsterben zu bremsen. Man erkennt das Gas FCKW als Verursacher des Ozonlochs und setzt ein Verbot durch. Manche „Erfolgsmeldungen“ zeigen aber erst, wie schlimm die Situation noch immer ist: Anfang 2018 war Peking fünf Wochen ohne Smog – eine Sensation!

Die größte Herausforderung, die die Industrialisierung mit sich brachte, ist der gegenwärtige Kampf gegen den Klimawandel. Der Einsatz fossiler Energieträger wird rarer und effizienter. Digitalisierung und künstliche Intelligenzen prägen die neuen, vernetzten Metropolen. Alte Konzepte urbanen Lebens werden verworfen. „Die Stadt der kurzen Wege“, in der Wohn-, Arbeits- und Einkaufsort nahe beieinanderliegen, ist nun wieder en vogue. Die Stadt – jede Stadt – war, ist und bleibt ein unabgeschlossenes Projekt.

Alois Pumhösel
Autor Alois Pumhösel
Alois Pumhösel pendelt zwischen dem Wiener Stadt- und dem Tiroler Landleben. Als Journalist, unter anderem für die österreichische Tageszeitung „Der Standard“, beschäftigt er sich mit Wissenschaft, Umwelt und Technologie. Hat er genug vom Trubel der Stadt, zieht er sich zu Fuß, per Rad oder auf Skiern in die Berge zurück.