Aus hard wird soft

Von Alexander von Wegner
Bildete früher das Chassis das Rückgrat eines Autos, wird es zukünftig die Software sein. Maria Anhalt, CEO des Automotiv-Softwarespezialisten Elektrobit, gibt aufschlussreiche Einblicke.
© Schaeffler/Getty

Elektrifizierung, Vernetzung, Internet of Things: Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass Automobile Teil dieser Ökosysteme sind. Was aber heißt das für ihre Entwicklung? Geht sie evolutionär weiter? Oder ist die Entwicklung so disruptiv wie in der IT-Industrie, im Handel, bei Musik oder Film? Tatsächlich beeinflusst die Elektronikarchitektur immer stärker den Entwicklungsprozess von Autos.

Expertin Maria Anhalt nennt Transformationsfelder.

Veränderte Kundenwünsche
Leistungsstärke oder Wirtschaftlichkeit, Sportlichkeit oder Komfortmerkmale waren rund ein Jahrhundert lang ganz typische Kriterien, nach denen Kunden Autos beurteilt und gekauft haben. Bei einer jüngeren Generation aber gewinnen andere Nutzererlebnisse die Oberhand. Worum geht es heute? Maria Anhalt sagt: „Es geht den Kundinnen und Kunden nicht mehr nur um PS, sondern um das Erleben im Fahrzeug. Die ‚Digital Life Experience‘, der Wunsch nach Software-basierten Erlebnissen, ist zunehmend ein Treiber der Automobilbranche. Das Beratungsunternehmen Capgemini schätzt, dass führende Automobilhersteller ihren Umsatz, der auf Software basiert, von 2021 bis 2031 fast verdreifachen, nämlich von acht Prozent Anteil am Gesamtumsatz auf 22 Prozent.“

Ein Blick nach China unterstreicht die Aussagen der Expertin. Dort verbringen junge Menschen bereits über 90 Minuten am Tag im Auto – nicht um damit zu fahren, sondern um dort parkenderweise zu surfen, zu spielen, zu kommunizieren.

Umgekehrter Ansatz bei der Grundstruktur
Der digitale Vormarsch im Pkw hat erhebliche Auswirkungen auf Geschäftsmodelle und Entwicklungsorganisationen im Automotive-Sektor: Statt komponentenbasierter Lösungen mit integrierter Software müssen domänenübergreifende Softwarelösungen entstehen. Deswegen gewinnen jetzt Softwarearchitekten deutlich mehr Einfluss auf die Produkt­entwicklung. Maria Anhalt: „Eine solche Transformation, die in dieser Relevanz nur alle 30 Jahre vorkommt, erfordert ein weitreichendes Umdenken, ein neues Mindset: Vorbei ist die Zeit der Einzelkämpfer – Zusammenarbeit und neue Allianzen sind entscheidend, um im Wandel zu bestehen.“

Neue Marken wie Tesla denken und konstruieren bereits nicht vom Chassis aus, sie setzen von vornherein eine innovative Elektrik-Elektronik-Architektur um. Ist das eine Chance für neue Marktteilnehmer? Maria Anhalt bejaht und nennt ein Beispiel: „Elektrobit ist Partner des neuen Joint Ventures Sony Honda Mobility (SHM). Für den neuen EV-Prototyp AFEELA entstand zuerst die Software und anschließend die Hardware – das ist völlig neu. Elektrobit entwickelte nicht nur die Softwarearchitektur für die User-Experience, sondern gestaltet auch das Cockpitsystem mit, etwa die Software für Hochleistungsprozessoren von Qualcomm. Das Auto ist binnen zwei Jahren um eine innovative Software herum entstanden und nicht von Hardware-Ingenieuren entwickelt worden. Am Anfang stand die Software, das Nutzer­erlebnis, die Vernetzung – alles andere, auch die Hardware, hat sich dem untergeordnet. Das hat die Zusammenarbeit von Sony Honda Mobility und uns auf Augenhöhe gebracht. Die Tech-Riesen wie Microsoft, Meta oder Apple kommen – die Software gibt ihnen Auftrieb. Früher oder später werden weitere führende Tech-Konzerne mit eigenen Produkten auftreten. Dafür brauchen sie allerdings einen langen Atem.“

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Geänderte Lieferketten
Die Umwälzungen in der Automobilentwicklung fallen so fundamental aus, dass davon auszugehen ist, dass sich die Geschäftsmodelle einzelner Marktteilnehmer deutlich ändern werden. Bislang stand komponentenbasierte Software im Vordergrund. Motor, Getriebe, Komfortfunktionen oder Thermomanagement: Jede Baugruppe hatte ein eigenes Steuergerät mit eigener Software. Bis zu 150 Stück sind in einem modernen Auto verbaut. Diese „Kleinstaaterei“ der Software-Landkarte werde verschwinden, ist sich Anhalt sicher. Dafür werden domänenübergreifende Lösungen entstehen. Das heißt auch, dass Softwarearchitekten deutlich stärker als früher die Produktentwicklung beeinflussen.

Maria Anhalt: „Schon seit einigen Jahren geht es um das Automotive Operating System (Auto­motive OS), das viel mehr ist als ein Betriebssystem. Es umfasst eine ­komplette Umgebung zur Entwicklung von Software für ­Fahrzeuge, ­Cloud-Ökosysteme, Datenmanagement, Entwick­lungstools, Update- und Upscale-­Systeme und vieles mehr. Diese Umgebung muss Echtzeit- und Sicherheitsanforderungen sowie ansprechende kundenorientierte Funktionen für das Entertainment und die Unterstützung des Fahrers umfassen. Ein Automotive OS als einheitliche Vermittlungsschicht zwischen Software und Hardware wird sich auch in den Lieferketten entsprechend positionieren: also zwischen Automobilherstellern und klassischen Tier-1-Zulieferern. Auch Elektrobit liefert daher zunehmend direkt an die Autoindustrie.“

Bedeutung konzernübergreifender Lösungen
Geht es um neue Fahrzeugarchitekturen, steht wie bei allen technischen Umbrüchen und Neuerungen die Frage im Raum: gemeinsame Normen oder individuelle Lösungen der Hersteller? Maria Anhalt erkennt folgenden Trend: „60 Prozent der Software im Auto sind nicht differenzierend. Das heißt: Sie sind generisch, unabhängig von der Marke. Das ist ein starkes Argument für einen standardisierten Ansatz. Man muss das Rad nicht mit großem Kosten- und Ressourcenverbrauch neu erfinden, wenn es Lösungen gibt. Über die restlichen 40 Prozent lassen sich markenspezifische Besonderheiten definieren. Wir glauben fest an Open-Source-Software als potenziellen Gamechanger.“

Cybersicherheit von Autos
Bei der zunehmenden digitalen Interaktion mit breiten Software-Ökosystemen geht es beim Fahrzeug auch immer mehr um Datensicherheit, aber auch um Zugriffsberechtigungen. Es gilt, Cybersicherheit zu garantieren, aber auch die Persönlichkeitsrechte des Nutzers im Sinne des Dateneigentums zu wahren. Maria Anhalt sagt: „Der große Unterschied entsteht durch die partielle Update-Fähigkeit der Steuergeräte. Softwarekomponenten werden erst im Fahrzeug durch eine Software-Aktualisierung integriert – im Gegensatz zur Integration ganzer Steuergerätesoftware zum Zeitpunkt der Entwicklung und zum Einspielen durch geschultes Personal. Entlang dieser Update-Kette eröffnen sich natürlich neue Angriffsvektoren, die berücksichtigt werden müssen. Die Entwicklungsstandards sind hierauf vorbereitet, und auch die restlichen Randbedingungen wurden mit den UNECE-Cybersecurity-Regularien entsprechend angepasst.“

Aus hard wird soft
Maria Anhalt, CEO des Automotiv-Softwarespezialisten Elektrobit
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„Das Auto ist mit Updates und vor allem auch Upgrades der Software immer auf dem neuesten Stand und damit wertstabiler.“

Vorteile für den Endverbraucher
Die neuen Architekturen kommen mit weniger komplexen Kabelbäumen aus, Entwicklung und Fertigung vereinfachen sich, Updates „over the air“ verringern die Kosten. Dass sich Neuwagen dadurch für den Endverbraucher verbilligen, erwartet Maria Anhalt allerdings nicht. Sie sagt: „Diese Vorteile gelten hauptsächlich für die Produktion. Die Entwicklungskosten werden nicht nennenswert sinken, da die Anforderungen an Safety und Cybersecurity steigen. Wir werden also eher eine Verschiebung der Wertschöpfung von der Hardware zur Software sehen. Der Vorteil für den Kunden wird daher eher im Werteversprechen liegen. Das Auto ist mit Updates und vor allem auch Upgrades der Software immer auf dem neuesten Stand und damit wertstabiler. Es ist auch zu erwarten, dass sich die Wartungskosten reduzieren, da die neuen Architekturen weniger komplex sind, und dass den Kunden neue Funktionalitäten angeboten werden können.“

Apps fürs Auto
Es ist zu erkennen, dass die Option „Function on demand“ für die Automobilhersteller neue Geschäftsbereiche erschließt: Technologien sind bereits eingebaut und lassen sich auf Wunsch und gegen Aufpreis freischalten. Können die Hersteller durch neue Architekturen ihre bisherigen Geschäftsmodelle weiter verändern? Neben der Einbindung solcher neuen Geschäftsbereiche in bestehende Prozessstrukturen der Automobilhersteller sieht Maria Anhalt eine weitere große Hürde: „Bei den Smartphones konnten sich mit Android und iOS grundsätzlich zwei Ökosysteme etablieren. Im Automotive-Bereich zählen wir derzeit 15 Softwareplattformen. De-facto-Standards sind dringend nötig, um ein Ökosystem aufzubauen – oder hinreichend große Stückzahlen einzelner Hersteller. Der Smart-TV-Markt kann hier als negatives Beispiel gelten. Viele Hersteller, die ein eigenes App-Ökosystem aufbauen, wollten es nicht über mehrere Gerätegenerationen pflegen. Zudem hatten sie kein Geschäftsmodell, um die Entwicklung der Apps für ihre Plattform monetarisieren zu können. Das sind die Hindernisse, die überwunden werden müssen.“

Herausforderungen beim Übergang
Aktuell setzen die Hersteller auf ihre bestehenden Plattformen mit traditionellen Steuergeräte-Architekturen, entwickeln gleichzeitig aber bereits neue Softwareplattformen. Maria Anhalt sagt: „Eine Softwareplattform ist ein eigenständiges Softwareprodukt, das unabhängig vom Lebenszyklus der darunterliegenden Hardware weiterentwickelt werden muss. Um wieder die Smartphone-Analogie zu bemühen: Es würde niemand auf die Idee kommen zu fragen, wann das Ende des Lebenszyklus für iOS vorgesehen ist. Zwar werden einzelne Versionen im Lauf der Zeit nicht mehr weiterentwickelt und neue Versionen werden freigegeben, aber das Ziel ist es nicht, das Projekt abzuschließen. Im Gegensatz zu Steuergeräteprojekten wird eine Softwareplattform nicht mit dezidiertem Enddatum entwickelt. Aktuell vermischen viele Hersteller diese Denkweisen allerdings stark. Das zeigt sich dann, wenn solche Softwareplattformen auf mehrere Fahrzeuggenerationen ausgerollt werden sollen.“

Klassische Ingenieurskunst
Die Idee, ein Auto von der Softwarearchitektur her zu entwickeln, erweckt den Eindruck einer Konkurrenzsituation zu tradiertem Ingenieurwissen. Zählen Fahrwerke, Fahrdynamik oder Karosseriebau in Zukunft weniger als Software? Sollten angehende Ingenieure sich anders spezialisieren? Maria Anhalt bewertet die Entwicklungen so: „Der Ehrgeiz, sichere, leistungsstarke und attraktive Fahrzeuge zu entwerfen und zu bauen, lässt nicht nach. Tatsächlich wird die Weiterentwicklung der elektrisch-elektronischen Architektur (E/E) und der softwaregesteuerten Funktionalität – insbesondere wenn wir die potenziellen Auswirkungen hoch entwickelter autonomer Funktionen berücksichtigen – völlig neue Möglichkeiten für das Fahrzeugdesign und die Raumnutzung eröffnen. Wenn ich als Ingenieurstudentin über eine Zukunft im Mobilitätsbereich nachdenken würde, würde ich mit Sicherheit viele Möglichkeiten in der Informatik und Elektronik sehen.“

Die Expertin
Aus hard wird soft© Elektrobit

Maria Anhalt (Jahrgang 1970) ist CEO der Elektrobit Automotive GmbH. Sie studierte in Sofia, am K.I.T in Karlsruhe sowie den US-Universitäten Harvard und Stanford unter anderem Computer Science und General Management. In ihrer früheren Laufbahn war Maria Anhalt bei Hewlett Packard Enterprise, Micro Focus und Continental in verschiedenen Positionen der Geschäftsführung, Unternehmensentwicklung und Leitung der Forschung & Entwicklung tätig. Dabei hat sie sich zu einer zukunftsorientierten Führungskraft entwickelt, die Innovationen vorantreibt und ungekannte Wege zum Erfolg beschreitet.