Grenzenlos
Dieses eine Wochenende Ende Oktober 2020 bleibt Janis McDavid wohl ewig in Erinnerung. Wie er in den extra angefertigten, feuerfesten Rennanzug schlüpft, den Helm überstreift und in den BMW-Boliden hüpft, um mit 200 km/h in der Spitze über den Hockenheimring zu rasen. Durch die legendäre Parabolika, ohne Hände am Lenkrad – wie auch? Stattdessen klemmt ein Joystick unter seiner Achsel. Sein Motto: grenzenlos denken. „Schon als Kind habe ich davon geträumt, coole Sportwagen zu fahren“, erzählt der Endzwanziger. Dieser Traum sei nun in einem BMW M3 in Erfüllung gegangen. Doch wie bewegt ein Mensch ohne Gliedmaßen ein Rennauto?
Dass scheinbar Unmögliches möglich wird, verdankt McDavid der Drive-by-Wire-Technologie Space Drive, mit der die Paravan GmbH seit fast 20 Jahren schwerstbehinderten Menschen selbstständiges Autofahren ermöglicht – seit 2018 im Joint Venture mit Schaeffler. Beim Space-Drive-System ersetzen Kabel die althergebrachten mechanischen Verbindungen. Lenken, bremsen und beschleunigen funktioniert über elektrische Impulse. Drei sich gegenseitig überwachende Steuerchips sorgen dafür, dass das System abgesichert ist. Innovator dieser Technologie ist Roland Arnold, Gründer und Geschäftsführer von Paravan: „Wenn ich sehe, dass Janis jetzt auch auf der Rennstrecke fährt, ist das unglaublich. Diese Technologie wird in der Zukunft eine ganz zentrale Rolle bei der Entwicklung zukünftiger Fahrzeugkonzepte spielen und jedem zugutekommen.“ Insbesondere für das autonome Fahren gilt Space Drive als Schlüsseltechnologie.
Janis McDavid und sein Paravan PR 50
1 Steuerung
Mit einem Joystick gibt McDavid die Richtung vor. Nach hinten bedeutet beschleunigen, nach vorne bremsen. Andere Funktionen bedient er mit einem Pad auf Höhe des rechten Arms
2 Liftfunktion
Die beste Hilfe im Alltag, um auf Augenhöhe mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren
3 Branding
Der Rollstuhl (Paravan PR 50) trägt die gleiche Startnummer wie der BMW-Rennwagen: die 49. Am 4. September hat McDavid Geburtstag
4 Antrieb
Zwei leistungsstarke 300-Watt-Motoren bringen ihn überallhin. Wahlweise mit 6 oder 10 km/h. Die Akkus haben eine Reichweite von ca. 30 km und laden sich beim Bergabfahren auf
320.000 Kilometer Freiheit
Der Traum vom Autofahren spielt in McDavids Leben seit jeher eine große Rolle. Selbst zu entscheiden, wohin und wann er fährt, bedeutet für ihn ultimative Freiheit. Seit zehn Jahren ist er nunmehr mit seinem von Paravan umgebauten Mercedes Sprinter unterwegs. 320.000 Kilometer unfallfrei. Über eine Laderampe steuert er den Hightech-Rollstuhl, ebenfalls aus dem Hause Paravan, ins Heck und hüpft nach vorn auf den Sitz. Genauso wie den Rennwagen bedient er auch seinen Kleinbus mit einem 4-Wege-Joystick. Nach hinten bedeutet beschleunigen, nach vorne bremsen, links und rechts ist Lenken. „Den Rest erledige ich über einen Multifunktionsknopf auf Höhe meines rechten Arms“, sagt McDavid. Den Blinker setzen zum Beispiel. Technologie, die bewegt. Im wahrsten Wortsinn. Im Herbst 2019 entstand dann die Idee, diese Technologie in einem echten Racer zu verbauen. Roland Arnold zeigte McDavid sein jüngstes Projekt, einen Audi R8 LMS GT3, den ersten Sportwagen weltweit, der ganz ohne mechanische Verbindung zwischen Lenkeinheit und Lenkgetriebe auskommt – vom Deutschen Motor Sport Bund zugelassen. Warum nicht mal diese Technologie mit einem 4-Wege-Joystick auf der Rennstrecke testen? Keine Frage für Janis McDavid, dass er die fahrerische Herausforderung annimmt. „Das erste Mal die 200-km/h-Schallmauer zu durchbrechen, war ein Megagefühl. Mein Fahrlehrer meinte zu mir: Hey, Junge, nicht auf den Tacho fokussieren, schau auf die Straße!“, schmunzelt er.
Space Drive behauptet sich immer mehr im Rennsport. Im Jahr 2020 kam die Schaeffler-Technologie bereits in fünf Boliden bei verschiedenen Sprintrennen und Testfahrten zum Einsatz, ab 2023 – so der Plan – dann auch in der neuen DTM. McDavid wird die Entwicklung genau verfolgen. Seine Premiere in einem Racer ist schon mal geglückt: „Wer hätte das gedacht, dass man nicht mal Arme und Beine braucht, um mit einem Rennwagen zu fahren.“ Ja, wer hätte das gedacht! Der Beweis: Dank Innovationen werden Grenzen neu definiert.