Size matters
Auch der weiteste Weg beginnt mit einem ersten Schritt. So hat es sinngemäß der chinesische Philosoph Lao-tse bereits vor über 2.500 Jahren formuliert. Ein Lao-tse vor dem Hintergrund der Klimakrise würde es vielleicht so ausdrücken: Die Kenntnis und das Bewerten des eigenen ökologischen Fußabdrucks ist der erste Schritt auf dem langen Weg zu umweltfreundlicheren Produkten. Mehr noch: Der CO2-Fußabdruck wird zunehmend zu einem elementaren Fixpunkt unternehmerischen Handelns. Denn nur wer die Umweltauswirkungen seines Portfolios detailliert aufschlüsselt, kann zielgenau und wirksam gegensteuern.
Grün punktet auf vielen Spielfeldern
Dass sich der Weg zu mehr Umweltfreundlichkeit nicht nur aus ökologischer Sicht lohnt, sondern auch mehr und mehr zu einer ökonomischen Notwendigkeit wird, hat sich längst herumgesprochen. Denn im Zeichen des Klimawandels ist ein niedriger CO2-Fußabdruck ein immer überzeugenderes Verkaufsargument – sowohl beim Endkunden an der Kasse als auch innerhalb der Lieferketten. Außerdem hilft ein niedriger CO2-Fußabdruck Unternehmen, sich am umkämpften Arbeitsmarkt besser zu positionieren. Hier wie dort: Grün punktet. Beim Käufer, beim Kunden, beim Kollegen.
Neben dem Image und der Reputation spielt ein weiterer Faktor eine zunehmend relevante Rolle: CO2-Emissionen werden zu messbaren Kosten, beispielsweise durch das Emissionshandelssystem in der EU. Es belegt den CO2-Ausstoß energieintensiver Industrien wie Ölraffinerien, der Stahlproduktion oder der Luftfahrt mit einem Preis. Für viele der in die EU importierten CO2-intensiven Waren müssen Unternehmen ab 2026 über den sogenannten Carbon Border Adjustment Mechanism Emissionszertifikate kaufen. Mit diesem Abgabesystem sollen auch außerhalb der EU entstandene Treibhausgasemissionen einen CO2-Preis erhalten, der dem des europäischen Emissionshandels entspricht. Ähnlich verfahren auch China, Großbritannien und Südkorea. Weitere Staaten werden folgen. Produkte mit einem hohen CO2-Fußabdruck werden also deutlich teurer. Gleichzeitig versetzt ein niedriger Fußabdruck Unternehmen in die Lage, ein kostengünstigeres Portfolio anzubieten – klimagerechtes Handeln erhöht spätestens mittel- und langfristig die Wettbewerbsfähigkeit.
Um die Spuren eines CO2-Fußabdrucks richtig zu deuten, bedarf es mehr als eines schnellen Blickes. Vielmehr gilt es, alle Treibhausgasemissionen (THG) eines Produktes, die während des gesamten Lebenszyklus oder ausgewählter Phasen erzeugt werden, aufzuschlüsseln. Auf diese Weise erhält ein Unternehmen Einblicke in die Emissionen im Zusammenhang mit Rohstoffgewinnung, Herstellung, Transport, Lagerung, Nutzung und Entsorgung des Produkts und kann an entsprechenden Stellen ansetzen.
Dabei inkludiert der CO2-Fußabdruck auch alle anderen THG-Emissionen wie beispielsweise von Distickstoffmonoxid (auch als Lachgas bekannt, entsteht als Abfallprodukt bei chemischen und Verbrennungsprozessen) und Methan. Deren Emissionen werden in sogenannte Kohlendioxidäquivalente (CO2e) umgerechnet und dem CO2-Fußabdruck zugeschlagen. Daher wird häufig auch vom THG-Fußabdruck gesprochen.
Übersicht ausgewählter Treibhausgas-Emissionen entlang der Lieferkette
Scope-3-upstream:
Vorgelagerte Aktivitäten
Scope 1 und 2:
Berichtendes Unternehmen
Scope-3-downstream:
Nachgelagerte Aktivitäten
Ein Puzzlespiel aus abertausenden Datensätzen
Wie präzise ein CO2- oder auch THG-Fußabdruck eines Produktes erfasst werden kann, hängt ganz entscheidend von der Quantität und der Qualität der nutzbaren Datenbasis entlang der gesamten Liefer- und Produktionskette ab. Der einfachere, aber immer noch aufwendige Teil umfasst die Pro-Stück-Emissionen, die bei der Produktion entstehen. Aufwendig deshalb, weil auch die Produktentwicklung, Logistik oder selbst die Verwaltung in die Berechnungen mit einbezogen werden muss. Das heißt, dass in Abhängigkeit des Betrachtungsrahmens der Untersuchung selbst die Emissionen des Backofens in der Betriebskantine oder auch die Klimatisierung der Büros auf das Produkt umgelegt werden müssten.
Diese THG-Emissionen aus Quellen, die sich im Besitz oder unter der Kontrolle des zu bilanzierenden Unternehmens befinden, werden den Bereichen Scope 1 und Scope 2 zugeordnet. Scope 1 umfasst alle THG-Emissionen, die durch direkt in unternehmenseigenen Aktivitäten verbrauchte Primärenergieträger verursacht werden. Das kann ein gasbefeuerter Schmiedeprozess ebenso sein wie die Gaseizung in der Fertigungshalle oder der Verbrenner-betriebene Fuhrpark. Auch eine Kältemittelleckage der Klimaanlage zählt zu den Scope-1-Emissionen. Score 2 umfasst die indirekten THG-Emissionen, die aus der Erzeugung der beschafften Energie resultieren. Solche Sekundärenergieträger sind beispielsweise Fernwärme oder Strom. Das E-Auto fällt also im Gegensatz zum Verbrenner-Kollegen im Fuhrpark in diesen Bereich. Schon dieses Beispiel zeigt: Es ist kompliziert.
Noch deutlich komplizierter wird es, wenn man die der Produktentstehung vor- und nachgelagerten Bereiche – Scope 3 Up- und Downstream – mit einrechnen will. Dazu zählen im Bereich Upstream unter anderem eingekaufte Rohstoffe, Waren- und Dienstleistungen, die Herstellung der Produktionsmaschinen, Anlieferungslogistik, aber auch die Geschäftsreisen und das Pendeln der am Produkt beteiligten Personen. Beim Downstream müssen unter anderem der nachgelagerte Transport, die mögliche Weiterverarbeitung des eigenen Produktes, aber auch die Nutzung und die Verwertung am Ende des Lebenszyklus einbezogen werden.
≈ 90 %
der weltweiten Emissionen sollen auf Netto-Null reduziert werden.
Quelle: International Carbon Action Partnership
Wie bereits beschrieben: Es ist kompliziert. Wandern wir zum besseren Verständnis mal durch die THG-Emissionen in Scope 1, 2 und 3 eines Lederschuhs. Da ist die Kuh im Stall. Der Stall wird beleuchtet, vielleicht sogar beheizt. Dann braucht die Kuh Futtermittel, bei deren Verdauung viel Methan entweicht. Die Kuh muss irgendwann zum Schlachter, dann wird ihr Leder gegerbt und gefärbt, bevor es zum Schuhfabrikanten kommt. Dort wird die Tierhaut geschnitten, vernäht und mit einem Kleber mit einer Gummisohle verheiratet. Metallösen und Schnürbänder aus Stoff, Umverpackung aus Pappe kommen auch noch dazu – alles ebenfalls von pendelnden Mitarbeitern produziert und von dieselgetrieben Lkw angeliefert. Jetzt geht der fertige Schuh auf Reisen, erst zum Großhändler, weiter zum Einzelhändler und schließlich zum Endverbraucher. Schiff, Lkw, Pkw, Bus, Bahn – wann immer sich der Schuh auf diesem Weg bewegt, werden Treibhausgase freigesetzt. Und es werden nicht die letzten sein: Am Ende seines Lebens muss der Schuh recycelt oder entsorgt werden. Dabei entstehen weitere Emissionen. Wie viele insgesamt? Schwer zu sagen: Bei unserer Recherche stießen wir auf Werte zwischen 7,34 bis 55,12 Kilogramm CO2e pro Paar Lederschuh. Jede Quelle verwies auf andere Unterquellen und berücksichtigte andere Bereiche innerhalb der Scopes. Oder wie es der Volksmund sagt: Nichts Genaues weiß man nicht.
Für den Schaeffler-Nachhaltigkeitsexperten Dr. Johannes Möller liegt genau hier die größte Herausforderung. Er sagt: „Entscheidend für die Berechnung des produkt-spezifischen CO2-Fußabdrucks ist eine transparente, qualitativ hochwertige und gut zugängliche Datengrundlage.“
Vertrauen muss sein, wenn Kontrolle fehlt
Nur: Ein rechtlicher Rahmen zur Ermittlung der Daten und der Berechnung des CO2-Fußabdrucks eines Produktes fehlt. Es existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Normen und Zertifikate, wie die Publicly Available Specification 2050 (PAS 2050), das Greenhouse Gas Protocol und die ISO 14067.
Das sogenannte Greenhouse Gas (GHG) Protocol basiert auf den Beschlüssen des Kyoto-Protokolls von 1997, mit denen die internationale Gemeinschaft sich auf verbindliche Ziele und Maßnahmen zum Kampf gegen den Klimawandel geeinigt hat. Mithilfe von gut 30 teilweise komplexen Tools und Datenbanken, die die Website des GHG Protocol (ghgprotocol.org) zur Verfügung stellt, können Unternehmen den CO2-Fußabdruck ihrer Produkte und des gesamten Unternehmens ermitteln und diese Ergebnisse auf das GHG-Protocol referenzieren. Auch das ist kompliziert, aber immerhin machbar.
Etwas komfortabler und einfacher sind CO2-Kalkulationssysteme, die verschiedene Anbieter offerieren. Diese in der Regel kostenpflichtigen Tools benötigen mindestens Angaben zu Materialauswahl, Aufbau der Lieferkette, Produktion, Logistik, Transport und Verwaltung. Die Berechnung des individuellen CO2-Fußabdrucks eines Produkts erfolgt dann auf Basis der millionenfach zusammengetragenen Einzelwerte in deren Datenbanken.
Damit Daten aber wirklich verlässlich und verifizierbar sind, bedarf es in einer globalisierten Welt international geltender Normen, gesetzlicher Standards und auch möglicher Sanktionen.
Um bei seinen Fußabdrucksberechnungen sicherzugehen, arbeitet Schaeffler daher aktuell mit einem Drei-Säulen-Prinzip. „Wir tauschen Daten mit unseren Lieferanten, nutzen externe Datenbanken sowie interne Expertise bei der CO2-Bewertung unserer Produkte“, erklärt Schaeffler-Nachhaltigkeitsexperte Möller. Auf Grundlage dieses aufwendigen Verfahrens hat Schaeffler bereits für einen Großteil seiner Produkte CO2-Fußabdrücke bestimmt. Diese Daten in Kombination mit zu erwartenden Verkaufszahlen helfen der Motion Technology Company auch dabei, Maßnahmen zur Emissionsreduzierung priorisiert zu entwickeln.
Rohstoffe haben den größten CO2-Fußabdruck
Die wichtigste Stellschraube ist in fast allen Fertigungsbranchen bereits lokalisiert: Der größte THG-Anteil entfällt auf den Bereich der verwendeten Rohstoffe. In diesem Anteil sind alle Emissionen von der Rohstoffentnahme über die Bereitstellung bis zum Transport an das weiterverarbeitende Unternehmen enthalten. Blicken wir noch mal auf das Beispiel des Schuhs. Die italienische Outdoorschuhmarke Aku hat ihren CO2-Fußabdruck zu 80 Prozent bei den verwendeten Materialien verortet und entsprechend reagiert und setzt mittlerweile vorzugsweise auf recycelte Microfaser. Hört sich nach einer einfachen Lösung an. Ist es aber nur bedingt. Denn Giulio Piccin, Produkt- und Nachhaltigkeitsmanager von Aku, findet, dass die schlechte CO2-Bilanz von Leder nur einen Teil der Wahrheit abbilde. Auf der Branchenwebsite fashionunited.de sagte er: „Wenn wir das Thema in der Realität betrachten, dann muss man sagen, dass Leder ein Abfallprodukt der Fleischindustrie ist. Es werden keine Kühe wegen des Leders gezüchtet. Wenn die Schuhindustrie aufhören würde, Leder zu verwenden, gäbe es das Leder trotzdem, es wäre Abfall und müsste entsorgt werden. Aber das wird nicht mit eingerechnet.“ Gerechter wäre es seiner Meinung nach, den CO2-Fußabdruck erst ab dem Moment zu erfassen, wo die Häute zu Leder verarbeitet würden, denn auf diese Prozesse habe seine Industrie auch Einfluss.
Auch diese Argumentationskette unterstreicht: Die komplexe Berechnung und auch realistische Bewertung eines CO2-Fußabdrucks bleibt kompliziert – aber deswegen nicht minder wichtig. „Denn der CO2-Fußabdruck ist eine wichtige Steuerungsgröße zur effizienten Reduktion treibhausgasrelevanter Emissionen“, begründet Michael Lehanka, Nachhaltigkeitsmanager bei Schaeffler. Ob Schuhhersteller oder Motion Technology Company: Rund um den Globus arbeiten Unternehmen daran, ihren CO2-Fußabdruck bis zur Unkenntlichkeit zu minimieren. Der Weg dorthin ist noch lang. Aber immerhin: die ersten Schritte sind gegangen.