Motor City erfindet sich neu
Fast jeder Autofan kennt die US-amerikanische Metropole Detroit zwischen dem Eriesee und dem Lake St. Clair. Von dort aus dominieren die großen Drei, Chrysler, Ford und General Motors, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Autowelt. Dort schreibt Henry Ford 1913 mit der Einführung der Fließbandfertigung des Ford-T-Modells Industriegeschichte. Dort kommen am 1913 fertiggestellten Hauptbahnhof Michigan Central Station (siehe auch Infokasten) Zehntausende Einwanderer aus Europa auf der Suche nach Arbeit an.
Der Boom Detroits setzt sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort. In den betriebsamen Industriehallen lässt sich gutes Geld verdienen. Dank der prosperierenden Automobilwirtschaft bildet sich in „Motor City“ eine solide Mittelschicht heraus. Anfang der 1950er-Jahre ist Detroit mit 1,8 Millionen Einwohnern die fünftgrößte Stadt der USA – heute sind es nicht einmal 700.000. Der Fall Detroits kommt fast über Nacht. Nach schweren Rassenunruhen 1967 ziehen gut verdienende Weiße zu Hunderttausenden weg aus dem Stadtzentrum. Die Ölkrise in den 1970er-Jahren verstärkt den Exodus: Die Nachfrage nach den typischen spritschlürfenden V8-Ami-Schlitten von Ford, Chrysler und General Motors bricht ein, während die Konkurrenz aus Europa und vor allem Japan immer stärker wird. Die zunehmende Automatisierung kostet weitere Arbeitsplätze. Insbesondere die Innenstadt verwahrlost immer weiter – aus Motor City wird Modder City.
Zahlreiche Rettungsversuche
Das einstige Schwergewicht ist schwer angeschlagen. Detroit taumelt, aber Detroit gibt nicht auf. Es folgen diverse Rettungsversuche. 1977 eröffnet Henry Ford II das imposante Renaissance Center. Der riesige Gebäudekomplex soll Kultur und Wirtschaft anziehen und die Innenstadt beleben – erfolglos. 1987 zeigt sich Detroit innovativ und baut als eine der ersten Städte weltweit eine vollautomatische Hochbahn. Sie fährt noch immer über viel Trostlosigkeit. Um die Jahrtausendwende versucht sich Detroit als Glücksspielparadies. Drei Casinos eröffnen. Von den dort verjubelten Geldern landen immerhin mehr als 100 Millionen Dollar jährlich als Steuern im Stadtsäckel. Das verlangsamt die Talfahrt, hält sie aber nicht auf: Detroit stirbt weiter. 2008, während der Finanzkrise, können Interessierte Häuser für gerade mal 100 Dollar kaufen. Doch wer will schon in Detroit leben! Die US-Regierung muss den in den Krisenjahren über General Motors und Chrysler kreisenden Pleitegeier mit Milliarden-Bürgschaften vertreiben. Ford verpfändet Haus, Hof und sogar sein Markenzeichen, um an Geld zu kommen. Die Rettungsaktionen halten die angeschlagenen großen Drei am Leben. Doch Detroit bleibt ein Wackelkandidat, kippt 2013 um: Die Stadt ist offiziell pleite. Ein Schock. Und vielleicht genau der überlaute Weckruf, den die Detroiter für einen kollektiven Neustart gebraucht haben.
Schock als Impulsgeber
Der Neustart fußt auch darauf, dass im darbenden Detroit etwas Entscheidendes günstiger zu haben ist als in anderen Metropolen: Fläche. Ob Brachland, Industriehallen oder Wohnhäuser – die Behörden versteigern noch immer verlassene Häuser ab 1.000 Dollar. Künstler finden preiswerte Ateliers, Ausstellungs- und Proberäume. Sie folgen bekannten Größen wie Diana Ross, die in Detroit geboren wurde, oder Michael Jackson, der hier 1969 sein Debüt gibt. Auch eine weitere Tradition wird wiederbelebt: das Industriedesign. 2015 wird Detroit als einzige US-amerikanische Stadt von der UNESCO als City of Design ins Netzwerk der Creative Cities aufgenommen. „Die Design-Industrie ist eine der Triebfedern der Stadterneuerung, sie beschäftigt mittlerweile im Großraum Detroit mehr als 45.000 Menschen und erbringt Lohnzahlungen in Höhe von 2,5 Milliarden Dollar“, lobt die UNESCO.
Mit der Kunst kommen junge, hippe und vor allem sehr gut ausgebildete Menschen nach Motown, so der zweite Spitzname Detroits aus den ruhmreichen 1950er-Jahren. Und mit Intelligenz und Innovationen kommt auch das Geld. So engagiert sich der Detroiter Milliardär Dan Gilbert für die Revitalisierung des verödeten historischen Stadtkerns mit seinen verzierten Bürotürmen aus den 1920er-Jahren – mit viel Geld und Erfolg. Durch die einstige Prachtstraße Woodward Avenue flanieren wieder Touristen, die in liebevoll restaurierten oder neu gebauten Hotels übernachten. Außerdem hat Gilbert 2010 den Inkubator Detroit Ventures gegründet. Mit hehren Zielen. Die von ihm und seinen Mitstreitern geförderten Tech-Start-ups sollen nicht weniger als „die Welt voranbringen“.
Da sich zu einem Dollar bekanntlich gern ein zweiter gesellt, mischt ein weiterer Milliardär bei der Auferstehung Detroits mit: Stephen Ross. Der als Philanthrop bekannte Tycoon hat Anfang des Jahres 100 Millionen Dollar für den Bau des Detroit Center for Innovation der University of Michigan gespendet. Dan Gilbert steuert das Grundstück bei, auf dem einst ein Gefängnis stand. Digitale Transformation statt eiserner Gitterstäbe – ab 2021 soll gebaut werden. „Detroit war schon immer ein unglaublicher Ort der Innovation und der Chancen“, schwärmt Ross, der in Detroit Schule und Universität besucht hat. „Das Detroit Center for Innovation wird der Stadt den Weg in eine neue Ära der Technologieführerschaft ebnen.“ Bürgermeister Mike Duggan sieht in der zukünftigen Innovationsschmiede, in der sich Lehre, Forschung und Unternehmertum vereinen sollen, nicht weniger als das Leitmotiv für ein Detroit 2.0.
Mobilität zu Lande, zu Wasser und im All
Schon jetzt blühen überall in der Stadt innovative Start-ups auf, die entweder hier gegründet worden sind oder durch einen sich anbahnenden Digital-Goldrausch in Motor City angezogen worden sind. Potenzielle Rocket Boomer wie Karamba Security, Derq und Guardhat. Während Karamba Security Sicherheitssoftware für Steuergeräte in Kraftfahrzeugen und Industrie-4.0-Steuerungen entwickelt, widmet sich Derq mithilfe künstlicher Intelligenz der präzisen Voraussage von Verkehrsbewegungen – wichtig für intelligente Straßen und das autonome Fahren. Auf den Einsatz hochsensibler Elektronik baut auch Guardhat. Dessen neuartige Wearables warnen Bediener und Personal beispielsweise in automatisierten Fertigungsanlagen vor Gefahrenbereichen.
Einer, der fest an Detroit und den Wandel von der gecrashten Auto- zur Hightech-Mobilitätsstadt glaubt, ist Chris Thomas. Der Unternehmer, aufgewachsen in Waterford, einem der vielen Detroiter Vororte, und langjähriger Ford-Manager, ist geradezu euphorisch: „Ich möchte hier die dynamischsten Mobilitäts-Start-ups der Welt gründen oder nach Detroit bringen. Die Metropolregion Detroit ist das tiefgründigste Verkehrstechnologie-Cluster der Welt. Es ist perfekt positioniert, um die Zukunft der Mobilität zu Lande, in der Luft, zu Wasser und im Weltraum zu schaffen.“ Jüngst hat Thomas den Inkubator Assembly Ventures mitgegründet. Mit dabei: der Berliner Venture-Capital-Spezialist Felix Scheuffelen. Generell fällt auf, dass sich die Detroiter Innovationstreiber gern mit anderen Tech-Hotspots wie San Francisco, Tel Aviv, London oder Dubai vernetzen.
Chris Thomas mischt auch beim Michigan Mobility Institute mit, das zusammen mit ausgewählten Universitäten ab 2021 den ersten Master of Mobility anbieten will. Der Gedanke dahinter ist klar: Innovative Unternehmen benötigen neben Geld und Mut reihenweise qualifizierte Mitarbeiter. Gefragt sind Fachleute für künstliche Intelligenz, Robotik, Cybersicherheit und ähnliche Bereiche.
Großer Bahnhof für die Fahrt in die Zukunft der Mobilität
Als die Michigan Central Station 1913 im Detroiter Stadtteil Corktown eröffnet wird, ist der Gebäudegigant dank des aufgeflanschten Büroturms das höchste Bahnhofsgebäude der Welt. Mit dem Aufstieg des Automobils nach dem Zweiten Weltkrieg verblasst die Bedeutung der imposanten Kathedrale der Mobilität. 1988 rollt schließlich der letzte Zug von den Gleisen. In den Folgejahren fangen in dem verwaisten Gemäuer ein paar Hirngespinste von Investoren an zu spuken: Casino, Polizeistation, Kulturzentrum – viele Ideen für eine neue Nutzung werden geboren, keine wird umgesetzt. Selbst der 2009 beschlossene Abriss scheitert. 2018 kauft Ford schließlich das mittlerweile verwahrloste Gebäude und entwickelt große Pläne: Die Michigan Central Station soll ab 2022 das Herzstück eines weiträumigen Innovationsparks sein, für den weitere alte Gebäude umgewidmet und neue gebaut werden sollen. Die Arbeiten haben längst begonnen. 740 Millionen Dollar will Ford in den kommenden Jahren in seinen Corktown Campus investieren. Auf dem Areal sollen 2.500 Ford-Mitarbeiter und eine ähnliche Anzahl bei Partnerunternehmen die Zukunft der Mobilität kreieren. Unlängst wurde eine Projektpartnerschaft mit dem Tech-Inkubator New Lab, der aktuell 155 Start-ups betreut, verkündet. Neben Büros sollen in Corktown Einzelhandelsflächen, Wohnungen, Parks und Gemeinschaftseinrichtungen entstehen und das älteste Viertel der Stadt zum dynamischsten weiterentwickeln. Bürgermeister Mike Duggan hofft, dass die Wiederbelebung des Detroiter Monuments Impulse für andere Projekte ähnlicher Größenordnung in der Stadt gibt und es so zum Symbol des Comebacks wird.
Auch die Großen haben sich neu in Detroit verliebt
Die Uni-Abgänger sollen aber nicht nur Start-ups voranbringen. Auch große Konzerne brauchen junge, bestens ausgebildete Innovationstreiber, um zu wachsen. Fiat Chrysler investiert zwei Milliarden Dollar in sein Werk im Osten Detroits und schafft so mehr als 4.000 Arbeitsplätze. Der Telekommunikationskonzern Verizon hat in Zusammenarbeit mit der University of Michigan sein 5G-Netzwerk gestartet und entwickelt in Detroit verschiedene 5G-Lösungen zur Verbesserung der Sicherheit von Fußgängern und Autos. Dazu gehören 5G-Kameras, die Verkehrs- und Fußgängermuster identifizieren, um Kollisionen zu vermeiden.
Auch der japanische Elektronik-Gigant Panasonic will an seinem 2012 bezogenen Automotive-Standort im nahe gelegenen Farmington Hills wachsen. Der damalige Spartenchef Tom Gebhardt sagt: „Hier im Südosten Michigans gibt es einen großen Pool an talentierten Experten. Davon wollen wir bei unseren Expansionsplänen profitieren.“ Der irische Konnektivitätsanbieter Cubic Telecom hat jüngst ein Büro in Detroit eröffnet, um nah an den Kunden aus der Mobilitätswelt dran zu sein. Die zunächst fünf Mitarbeiter sollen schnell neue Kollegen bekommen. In einer Pressemitteilung zur Standorteröffnung heißt es: „Detroit ist im Begriff, zum Epizentrum der Mobilität in den USA zu werden.“
Ford tut ebenfalls sein Bestes, damit diese Vision wahr wird. 2018 kaufte der wiedererstarkte Autogigant die heruntergekommene Michigan Central Station. Hier und im nahe gelegenen Viertel Corktown soll ein Innovationszentrum zum Testen von Mobilitätslösungen entstehen (siehe Infokasten). Parallel dazu krempelt Ford sein 66 Jahre altes Entwicklungszentrum im Vorort Dearborn auf links. Wenn der Campus of the Future fertig ist, sollen dort mehr als 20.000 Mitarbeiter in einer flexiblen, hochtechnologischen Umgebung neue Mobilitätslösungen erschaffen, zu denen auch elektrifizierte Fahrräder, Roller und Shuttles gehören.
Vielleicht schreibt Detroit tatsächlich wieder Geschichte – nur eine ganz andere, eine digitale.