Mobile Medizin
Hühühü statt Tatütata – die ersten Rettungswagen wurden noch von Pferden gezogen. Später löste der Verbrennungsmotor das Pferd als antreibende Kraft ab. Der technische Fortschritt ließ weitere Ideen sprießen: 1938 vertrat der Heidelberger Chirurgie-Professor Martin Kirschner in seinem Aufsatz „Die fahrbare chirurgische Klinik“ die Auffassung, dass durch präklinische ärztliche Behandlung mehr Patienten gerettet werden könnten. Theoretisch richtig, zur damaligen Zeit leider praktisch nicht umsetzbar. Heute gehören EKG, Defibrillator und Beatmungsgeräte zur Standardausstattung von Rettungswagen. Als Hubschrauber haben „Rettungswagen“ auch längst die Lüfte erobert.
Kirschners Vision von der „fahrbaren chirurgischen Klinik“ ist ebenfalls längst Realität geworden. So ließ sich das Centre of Ambulance Services in Dubai bereits 2008 eine aus drei Mercedes-Bussen bestehende Klinik auf Rädern made in Germany liefern. Eingesetzt werden solche mobilen Medizinzentren bei Großschadenslagen, also Unfällen oder Katastrophen mit vielen Verletzten, um dort schnell medizinische Hilfe vor Ort leisten zu können. Herzstück der Hightech-Karawane in Dubai ist die in einem der drei Busse integrierte intensivmedizinische Versorgungseinheit inklusive funktionstüchtigem Operationssaal.
„Die Zukunft der Mobilität wird die Gesundheitsversorgung verändern, den Einsatz dezentraler Versorgungsmodelle beschleunigen und die Planungen, wo und wie neue Einrichtungen gebaut werden, beeinflussen.“
Aus dem Deloitte-Arbeitsblatt „Mobility will change the future of health care“
Im Trend liegen auch mobile Computertomografen in Lkw-Aufliegern oder OP-Säle in Containern. Solche beweglichen Einheiten helfen, Kapazitätsengpässe bei Krankenhäusern auszugleichen, beispielsweise bei Modernisierungsmaßnahmen. Diese werden heute deutlich öfter durchgeführt als noch vor 50 Jahren, weil die Nutzungsdauer eines OP-Saals durch die immer schnellere technische Entwicklung von ehemals 30 bis 35 Jahren auf heute 10 bis 15 Jahre zusammengeschrumpft ist. Mobile Einheiten helfen dann, den Klinikbetrieb aufrechtzuerhalten.
Mobile Medizin 4.0: Rollende Praxis ruft sich selbst
So viel zum Status quo. Mittlerweile arbeiten visionäre Köpfe verschiedenster Forschungs- und Entwicklungsdisziplinen aber bereits an der mobilen Medizin 4.0. Im Fokus stehen dabei weniger rollende Intensivstationen à la Dubai, sondern vor allem diagnostische und medikamentöse Bereiche. Und: „mobil“ muss nicht zwingend „Fahrzeug“ bedeuten. Auch Smartphones und sogenannte „Wearables“, also tragbare, zum Beispiel in Kleidung integrierte Applikationen, werden immer wichtigere mobile Bestandteile moderner Medizin.
Die US-Ideenschmiede Artefact stellt sich eine solche umfassende mobile medizinische Anwendung so vor: Das Smartphone sammelt über diverse im Umfeld (Haushalt/Büro) verteilte Sensoren, über Wearables oder Verbindungen mit dem Internet der Dinge ständig gesundheitsrelevante Daten. Werden besorgniserregende Werte gemessen, kann das System eine mobile Praxis bestellen, die autonom zum Patienten fährt. Diese unbemannte mobile Praxis ist mit weiteren diagnostischen Möglichkeiten ausgestattet. So könnte der Patient mit Augmented Reality, beispielsweise einer visuellen Projektion seines Körpers, ergänzend zu verbalen Beschreibungen punktgenau auf Problembereiche hinweisen. Anhand aller Parameter erstellt eine künstliche Intelligenz eine Diagnose und schlägt eine passende Therapie vor. Die nötigen Medikamente kann die bordeigene Apotheke im Idealfall direkt mitgeben. Sollte es Bedarf für einen Kontakt mit einem realen Arzt geben, kann dieser per Videokonferenz mit eingebunden werden.
Viele Diagnostik- und Überwachungsfunktionen lassen sich auch in andere Fahrzeuge integrieren – so wird die tägliche Fahrt ins Büro zur Routineuntersuchung. Ob man diese permanente Überwachung des Körpers und das entsprechende Abgreifen der Daten befürwortet, ist natürlich eine weitere, nicht unerhebliche Frage. Aber wie viele Menschen tracken schon heute körperliche Kennzahlen mit einer Fitness-App?
KI diagnostiziert besser als gedacht
Eine weitere und nicht nur für die beschriebene mobile Anwendung entscheidende Frage: Kann eine KI zukünftig wirklich einen realen Arzt ersetzen? In einigen Bereichen ist sie bereits auf Augenhöhe. Gerade in der Diagnostik, wenn es darum geht, das vorhandene Symptom mit anderen Fällen abzugleichen und entsprechende Schlüsse daraus zu ziehen, haben künstliche Intelligenzen schon heute in einigen Tests besser abgeschnitten als der reale Mediziner. Zum Beispiel beim Körperscreening zur Hautkrebserkennung. Eigentlich wenig überraschend, schließlich greift eine gut „geschulte“ KI in Sekundenbruchteilen auf Hunderttausende oder gar Millionen Vergleichsdaten zurück. Warum also nicht sich in der Mittagspause in eine rollende Box stellen und seinen Körper absuchen lassen, statt monatelang auf einen Termin beim Facharzt zu warten?
Mobilität verbindet Medizin mit den Menschen
Genau hier liegt der große Vorteil mobiler Medizin: Sie bringt ärztliche Versorgung zu den Menschen. Auch zu Menschen, die sonst keinen Zugriff auf medizinische Angebote haben. Oder zu Menschen, die Untersuchungen aus Zeitknappheit oder schlicht aus Faulheit vernachlässigen. „Im Einzelfall kann dies bedeuten, dass Menschen leiden, weil sie keine Möglichkeit haben, einen medizinischen Experten aufzusuchen, und dass ihr Leiden über den Punkt hinausgeht, an dem sie mit einfacheren Methoden ihr Gesundheitsproblem lösen können“, schreibt der auf KI und Maschinenlernen spezialisierte Dr. Lance B. Eliot in einem Beitrag über mobile Medizin für das Magazin „Forbes“. Makroökonomisch können nicht frühzeitig erkannte Krankheiten die Gesundheitskosten durch eine dadurch verursachte teurere medizinische Versorgung in die Höhe treiben, argumentiert Eliot weiter. Investitionen in mobile medizinische Anwendungen können sich also nicht nur humanitär auszahlen, sondern auch finanziell rechnen.
Flying Doctors
Luftrettung mit sogenannten Multikoptern – senkrechtstartenden Luftfahrzeugen mit mehreren elektrisch angetriebenen Rotoren – ist möglich, sinnvoll und verbessert die notfallmedizinische Versorgung der Bevölkerung: Auf diesen Nenner lässt sich das Ergebnis der weltweit ersten Machbarkeitsstudie über den Einsatz dieser neuen Fluggeräte im Rettungsdienst bringen, die die Luftrettung des deutschen Automobilclubs ADAC 2018 in Auftrag gegeben hatte. Der Multikopter soll den Rettungshubschrauber laut ADAC ausdrücklich nicht ersetzen, sondern die schnelle Hilfe aus der Luft ergänzen. Ein Patiententransport ist dabei zunächst nicht vorgesehen.
29 %
aller Afrikaner leben laut einer Studie des Weltwirtschaftsforums zwei oder mehr Stunden von einem Krankenhaus entfernt. Aber nicht nur in Afrika, sondern auch in anderen ländlichen Gebieten ohne nennenswerte medizinische Infrastruktur können mobile Angebote die gesundheitliche Versorgung massiv verbessern.
Die bis 150 km/h schnellen Multikopter bringen Notärzte ab einem Einsatzradius von 25 Kilometern schneller zum Einsatzort als erdgebundene Rettungswagen, die sich durch den Stadtverkehr kämpfen müssen. Vor dem Hintergrund, dass sich die Notarzt-Eintreffzeit in den vergangenen 20 Jahren im Bundesdurchschnitt um fast 40 Prozent verschlechtert hat, ein wichtiger Vorteil. Ein weiterer: Die Arbeit des Mediziners wird so effektiver und der Multikopter zu einem adäquaten Mittel im Kampf gegen den vielerorts herrschenden Notarztmangel. Vorteil drei: die in der Gesellschaft positiv besetzten Rettungseinsätze können helfen, die Akzeptanz des neuen Mobilitätsangebots der Multikopter zu erhöhen.
Medizin zu den Menschen bringen: Genau mit diesem Ansatz rollen mittlerweile über 2.000 mobile Kliniken durch die USA. Sie sind eine feste Säule des dortigen Gesundheitssystems geworden. Neben Bewohnern in ländlichen Regionen nehmen vor allem Geringverdiener, Obdachlose und Unversicherte dieses mobile medizinische Angebot an. In Deutschland rollen seit Sommer 2022 sogenannte Medibusse durch Großstädte wie Berlin und Hamburg. Die Fahrzeuge sind ähnlich ausgestattet wie eine komplette Arztpraxis und sollen vor allem geflüchtete Menschen, aber auch ärmere Bevölkerungsschichten in ihrem direkten Lebensumfeld medizinisch unterstützen. Bei Bedarf kann das Team unter anderem medizinisch geschulte Videodolmetscher für zahlreiche Sprachen dazuschalten. Gründe für den Einsatz eines solchen Angebots gibt es viele: Engpässe in der fachärztlichen Versorgung gehören ebenso dazu wie Sprachbarrieren sowie fehlende Information und Orientierung im Rechts- und Gesundheitssystem. Als schnelle mobile Einsatzgruppe umgeht das Medibus-Team diese Hürden mit seinem unbürokratischen Angebot. Schließlich nützt der beste Arzt nichts, wenn er unerreichbar ist.
Schaeffler bewegt die Medizin
Mit seiner Industriesparte engagiert sich der Zulieferer seit vielen Jahren auch im Bereich Medizintechnik. Insbesondere kommen Komponenten von Schaeffler in der bildgebenden Diagnostik wie C-Bögen, Röntgenröhren und Computertomografen zum Einsatz.
„Führende Gerätehersteller setzen beispielsweise für eine hohe Scan-Qualität auf unsere sehr leisen CT-Lager und Antriebe“, sagt Ralf Moseberg, Leiter des Geschäftsbereichs Industrial Automation bei Schaeffler. Auch im OP-Bereich, insbesondere in Deckenschwenkarmen, sind Schaeffler-Produkte im Einsatz: Rotativ-Lagerungen, Bremsen und auch hier Antriebe. Moseberg. „Wo immer in der Medizin Linear- und Rotativ-Führungen bis hin zu mechanischen Robotikanwendungen im Einsatz sind, treffen sie fast immer auf unsere Motoren, Getriebe oder auch komplette kinematische Systeme.“ Die Medizintechnik ist für Schaeffler ein strategisches Wachstumsfeld. Das Unternehmen will das Geschäft dort deutlich ausbauen und zu einer Hauptsäule im Bereich Industrie machen.
Dabei setzen Moseberg und seine Kollegen auch auf Inhouse-Mobilität: So können Computertomografen mit Fahrsystemen von Schaeffler schnell von einem Raum in den nächsten transportiert werden – das erhöht den Patientendurchsatz und die Behandlungseffizienz. Die jüngst bekannt gegebene Übernahme des Lineartechnikspezialisten Ewellix unterstreicht die Ambitionen von Schaeffler. Das Unternehmen ist einer der Marktführer unter anderem bei elektromechanischen industriellen Aktuatoren und Hubsäulen sowie Rollengewindetrieben. Diese werden neben der Robotik und mobilen Maschinen vor allem in der Medizintechnik eingesetzt – in der Zahnmedizin, der Früh- und Neugeborenenpflege oder in chirurgischen Ausrüstungen ebenso sowie in Reha- und Fitnessgeräten.