Houston, wir haben ein Schrottproblem

Von Björn Carstens
Die Zahl der Satelliten im All steigt rapide. Was aber, wenn die Hightech-Flügler kaputtgehen? Dann rasen sie als gefährlicher Weltraumschrott um die Erde und bedrohen die immer expansivere Nutzung des Orbits. Aber wie kann man dem himmlischen Müll Herr werden? tomorrow hat sich auf die Suche nach Antworten begeben.
© Getty

Selbst Astronomie-Laien entdecken mit bloßem Auge bisweilen Ungewöhnliches am nächtlichen Firmament. Strahlend helle Flugobjekte, die auf den ersten Blick etwas Sternschnuppenschönes an sich haben. Verantwortlich dafür ist ein nicht minder schillernder und gleichwohl umstrittener US-amerikanischer Multi-Unternehmer: Elon Musk. Seine Starlink-Satelliten spinnen sich wie ein eigenes Sternennetz um unseren Planeten.

Nach Angaben des „Jonathan’s Space Report“ gehörten Musks Raumfahrtunternehmen SpaceX Mitte Januar dieses Jahres 3.374 der künstlichen Flugobjekte im Orbit, 3.338 waren aktiv. Das Wachstum ist beachtlich. 2019 hatte SpaceX laut Branchendienst Spaceflight Now erst 67 Satelliten im All. Heute sind es 50-mal so viele. Tausende weitere sollen folgen. Erst kürzlich hat die zuständige US-Behörde FCC SpaceX erlaubt, 7.500 Starlink-Satelliten der zweiten Generation zu starten.

Das SpaceX-Beispiel verdeutlicht: Es wird immer wuseliger im Weltraum. Fast wöchentlich schießen Raketen neue Satelliten in die Erdumlaufbahn. Seit Sputnik 1957 den Wettlauf ins All einläutete, sind nach Angaben der europäischen Weltraumagentur ESA rund 6.400 Raketen (Stand Dezember 2022) ins Universum gestartet, die mehr als 15.000 Satelliten dorthin beförderten. Von denen befinden sich gegenwärtig noch rund 9.800 im Weltraum – davon funktionieren circa 7.200. Ihre Einsatzgebiete sind breit gefächert: Von Wetternachrichten und Klimadaten über Telekommunikation bis hin zur Navigation – alles läuft über den Weltraum. Die restlichen circa 2.600 künstlichen Trabanten haben entweder ihre Mission beendet oder sind defekt. Sie müssten eigentlich gezielt zum Absturz gebracht werden, damit sie beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre verglühen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sie durch Zusammenstöße mit anderen Objekten die Zahl der Weltraumtrümmer erhöhen. Das Problem: Ein internationales Weltraumschrott-Gesetz gibt es bislang nicht. Viele Satelliten werden sich selbst überlassen.

  • 1995
    wurde der französische Aufklärungssatellit „Cerise“ von einem Trümmerstück einer Ariane-Rakete beschädigt, die zehn Jahre zuvor explodiert war. Aufprallgeschwindigkeit: 50.000 Kilometer pro Stunde.
  • 2007
    zerschoss China mit Absicht einen ausgedienten Satelliten. Folge: 3.000 größere Bruchstücke im All.
  • 2009
    stießen erstmals zwei Satelliten zusammen – der amerikanische Kommunikationssatellit „Iridium 33“ mit dem russischen Aufklärungssatelliten „Kosmos 2251“. Aufprallgeschwindigkeit in einer Höhe von knapp 800 Kilometern: fast zwölf Kilometer pro Sekunde. Die freigesetzte Energie entsprach circa zehn Tonnen TNT-Sprengstoff. Die Satelliten zerbarsten in schätzungsweise 100.000 Einzelteile mit einer Größe von einem Zentimeter und mehr.
  • 2020
    kam es zu mehr als 220 gefährlichen Begegnungen zwischen der internationalen Raumstation ISS in etwa 400 Kilometer Höhe und Trümmerteilen.
Mehr All-Aktivitäten, mehr Müll

Die Herausforderung, der Sache Weltraumschrott Herr zu werden, dürfte nicht kleiner werden. Denn es drängen immer mehr Unternehmen in kosmische Sphären. Noch machen zwar staatliche Organisationen wie ESA und NASA den Löwenanteil aus mit weltweiten Space-Investments von rund 78 Milliarden Euro im Jahr 2021, die privatwirtschaftlichen Akteure greifen aber auch zunehmend nach den Sternen. 2021 investierten Raumfahrtunternehmen wie SpaceX, Blue Origin von Amazon-Gründer Jeff Bezos und viele andere laut ESA 13 Milliarden Euro – was rund 14 Prozent des globalen Raumfahrtinvestments ausmacht. Bis 2040, so sagen die US-Investmentbanker von Morgan Stanley, dürfte sich der Umsatz in der Raumfahrt von rund 340 Milliarden Dollar im Jahr 2016 auf mehr als eine Billion etwa verdreifachen. Experten schätzen, dass Weltraum-Start-ups rund um den Erdball in den nächsten zehn bis 15 Jahren 100.000 Satelliten ins All bringen wollen.

Hinter den USA und China, die nach den Vereinigten Staaten die zweitmeisten Satelliten im All haben, wollen auch Länder und Regionen im Orbit mitmischen, die diesbezüglich bislang wenig Schubkraft entwickelt haben. So schwingt sich Ruanda auf, zum Zentrum einer afrikanischen Raumfahrtindustrie zu werden. Erste Satelliten sind seit 2019 in der Umlaufbahn. Das ehrgeizige Ziel: Die Ruanda Space Agency plant, weitere 330.000 Satelliten in die Umlaufbahn zu schießen. Unglaubliche Zahlen!

Houston, wir haben ein Schrottproblem
Im Weltraum wird es immer wuseliger. Weltraum-Start-ups planen in den nächsten zehn bis 15 Jahren, circa 100.000 Satelliten ins All zu schießen© ESA

Darüber hinaus gibt es viele weitere Aktivitäten im All: Das französische Start-up Space Cargo Unlimited plant zum Beispiel, 2025 eine unbemannte Weltraumfabrik zu eröffnen. „Der Weltraum bietet ideale Bedingungen, um effizientere Produkte herzustellen“, wirbt der Geschäftsmann Nicolas Gaume. „New Space“ heißt jener Aufbruch der Raumfahrtbranche. So ist Ende 2022 das private Raumfahrtunternehmen ispace zum Mond aufgebrochen. Bis 2040 will das japanische Start-up eine Stadt auf dem Erdtrabanten bauen. Auch die NASA-Mondmission Artemis (siehe Infokasten unten) ist in vollem Gange. Es ist allerhand los weit oben über unseren Köpfen – und das birgt große Gefahren. Spät dämmert den Raumfahrern, dass sie das Müllproblem im All lange unterschätzt haben.

Kollisionen haben Sprengkraft von zehn Tonnen TNT

Experten fürchten bereits jetzt, dass wegen des vielen Schrotts Raumflüge irgendwann kaum mehr möglich sein werden, wenn nicht gegengesteuert wird. Bei einer Geschwindigkeit von mehreren Zehntausend Kilometern pro Stunde verwandeln sich selbst winzige Partikel in zerstörerische Geschosse. Der Sachschaden bei einem Crash mit einem sündteuren Hightech-Satelliten geht dann schnell in die Milliarden. Mal abgesehen davon, welche fatalen Folgen ein Zusammenstoß mit dem Weltraumschrott für Astronauten haben könnte.

„Wenn eine Aluminiumkugel von gerade mal einem Zentimeter Durchmesser auf einen Satelliten trifft, hat sie die Energie eines Mittelklassewagens, der mit etwa fünfzig Stundenkilometern in ihn hineinfährt.“

Heiner Klinkrad, Chef für Weltraumtrümmer bei der ESA

Das Kessler-Syndrom – bekannt geworden durch den damaligen NASA-Mitarbeiter Donald J. Kessler im Jahr 1978 – beschreibt die Gefahr, dass sich die Zahl der Trümmerstücke im erdnahen Orbit in einer Kettenreaktion vervielfältigt – jede Kollision erzeugt neue Trümmer, und je grösser die Anzahl der Trümmerstücke ist, desto wahrscheinlicher werden Kollisionen. Die meisten Kollisionen finden statt, wenn kleine Objekte auf große treffen. Kessler warnte vor einem sich selbst verstärkenden Kaskadeneffekt, der die Zahl der Schrottteilchen exponentiell anwachsen lässt. Irgendwann – Kessler sprach von rund hundert Jahren – würde jede bemannte Raumfahrt unmöglich, weil das Kollisionsrisiko zu hoch wäre.

Nach Angaben des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) befindet sich eine große Zahl von Trümmerstücken in einer Höhe von etwa 36.000 Kilometern und darüber. Dort gefährden sie hauptsächlich TV- und Telekommunikationssatelliten, die sich in einer sogenannten geostationären Umlaufbahn befinden. Aber auch im niedrigen Erdorbit, also bis zu einer Höhe von 2.000 Kilometern, kreisen bereits Zehntausende bedrohliche Teile Weltraumschrott.

Was an Schrott durch den Orbit rauscht:
  • Circa 32.300
    Trümmerteile größer als zehn Zentimeter hat die ESA Stand Ende 2022 im Weltraum registriert. Allerdings werden nicht alle Objekte von Weltraumüberwachungsnetzen katalogisiert. Insgesamt, so schätzt die ESA, rasen etwa 36.500 Teile Weltraumschrott durch den Orbit, die größer als zehn Zentimeter sind. Typisch für solche herrenlosen Objekte sind ausgediente Raketenoberstufen, abgeschaltete und zerstörte Satelliten sowie verloren gegangenes Werkzeug von Astronauten.
  • Circa 1.000.000
    Kleinstteilchen größer als ein Zentimeter, so schätzen Wissenschaftler anhand statistischer Modellrechnungen, schwirren durch den Orbit. Weitere 130 Millionen dieser winzigen Teilchen sollen nur etwas größer als ein Millimeter sein. Das können auch gefrorene Treibstoffreste oder abgebröckelter Lack sein. Die Dunkelziffer der Mini-Trümmer liegt wahrscheinlich weit über 130 Millionen.
  • Mehr als 640
    Ereignisse hat die ESA bislang erfasst, bei denen Weltraumschrott durch sogenannte Fragmentierungen, also durch Kollisionen und Explosionen, entstanden ist.
  • Circa 10.600 Tonnen
    soll dieser Schrott laut ESA insgesamt wiegen.
90 %

aller Arten von ausgedienten Weltraumobjekten müssen aktiv beseitigt werden, um die Wachstumsrate von Weltraumschrott zu begrenzen, bevor die Beseitigung beginnen kann.

Quelle: Umweltbericht 2022 Space Debris Office ESA

Das sind die Weltall-Aufräumer

2021 weihte die ESA ihr neues Zentrum für Weltraumsicherheit ein. Neben der Überwachung des Weltraumwetters und der Untersuchung von Sonnenstürmen geht es vor allem um den Kampf gegen Weltraumschrott. „Wir fordern, dass ab 2030 am Ende jeder Mission das Objekt verschwinden muss“, sagt Holger Krag, Leiter des Programms Weltraumsicherheit der ESA. Damit eine solche lückenlose All-Reinigung umgesetzt werden kann, bräuchte es eine kompetitive Landschaft mehrerer Anbieter, um entsprechende Technologien sowie preissenkende Routinen und Skalierungseffekte zu entwickeln.

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Eine Idee: Roboter mit Greifarmen könnten Trümmerteile in die Erdatmosphäre abschleppen, wo sie dann verglühen © Clearspace

Gemeinsam mit dem Schweizer Start-up Clearspace will die ESA einen Roboter in die Erdumlaufbahn schicken, der mit seinen Greifarmen Trümmerteile und defekte Satelliten entfernt. Eine Art Weltraum-Müllabfuhr, die mithilfe einer Sonde den Schrott umklammert und ihn in Richtung Erde abschleppt, damit er in der Atmosphäre verglüht. Kein Witz: Erste Satelliten haben bereits einen „Griff zum Wegschmeißen“ an ihrer Außenhaut, der das Entsorgen vereinfacht.

Houston, wir haben ein Schrottproblem
Eine Art aluminiumbeschichtetes Bremssegel könnte Satellitenteile sanft aus der Umlaufbahn drängen© ESA

Eine weitere ESA-Idee ist eine Art aluminiumbeschichtetes Bremssegel („Drag Augmentation Deorbiting System“), das Satellitenträger sanft aus seiner Umlaufbahn in Richtung Erdatmosphäre schieben soll, wo sie verglühen. Aktuell ist das Modell für das „Deorbiting“ von Kleinsatelliten im Bereich von einem bis 100 Kilogramm entwickelt worden. Das gleiche Projekt ist laut ESA aber auch für mittelgroße bis große Satelliten denkbar.

Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) arbeitet ebenfalls an Technologien, um Weltraumschrott zu entsorgen. Eine Idee: Trümmerteile mit einem Hochleistungslaser so stark abbremsen, sodass sie in die Erdatmosphäre sinken, wo sie dann verglühen. Derart starke Laser bräuchten allerdings ein eigenes kleines Kraftwerk. Ein anderer DLR-Ansatz ist es, defekte Satelliten nicht gleich abstürzen zu lassen, sondern zunächst einen Reparaturversuch zu starten. Für dieses „On-Orbit Servicing“ muss eine sichere Annäherung mit einer fliegenden Serviceeinheit samt Roboterarm an den defekten Satelliten gelingen. Keine einfache Zielsetzung, aber erste Versuche mit Partnern auf der ISS wurden bereits durchgeführt.

Um Müll einsammeln oder anderweitig entsorgen zu können, muss er zunächst lokalisiert werden. Genau hier setzt das deutsche Start-up Vyoma an. Das Unternehmen will mit eigenen Satelliten Echtzeitdaten sammeln, um Weltraummüll zu lokalisieren. Mehr noch: Die Daten helfen auch, mögliche Kollisionen vorherzusagen und so zu verhindern. Bei Geschwindigkeiten von mehreren Zehntausend Kilometern pro Stunde ist das allerdings eine echte Herausforderung. Der erste der beiden Vyoma-Satelliten soll 2024 starten. Kommerzielle und institutionelle Kunden soll es bereits geben. „Das wird erst mal reichen, um einen Katalog aufzubauen von Objekten, die größer als 20 Zentimeter sind“, heißt es von Seiten von Vyoma. Anschließend sollen zehn weitere Überwachungssatelliten folgen. Sie alle sollen am Ende ihrer Mission in der Erdatmosphäre rückstandslos verglühen.

Auch das Start-up Okapi Orbits sammelt Daten – aber nicht um Weltraummüll zu entsorgen, sondern um Unfälle damit zu verhindern. Die Daten wandern in eine Kollisionsvermeidungssoftware für Satelliten. Eine künstliche Intelligenz analysiert die Informationen und empfiehlt Kunden im Fall der Fälle ein mögliches Ausweichmanöver.

Manuel Metz vom DLR sieht die vielen unterschiedlichen Ansätze positiv. „Ich habe den Eindruck, dass die Industrie da eine Marktperspektive sieht. Es gibt in mehreren Ländern verschiedene Ansätze, die erprobt werden.“ Genau das sei der richtige Weg, sagt der Experte. Angesichts der Komplexität der Aufgabe scheint es auch nur logisch, dass es nicht nur den einen richtigen Lösungsweg geben kann. Vielmehr wird auch bei diesem überirdischen Problem Technologieoffenheit der Schlüssel zum Erfolg sein.

Technik von Schaeffler an Bord von Mondmission

Mit der Schaeffler Aerospace GmbH ist der Schaeffler-Konzern seit über einem halben Jahrhundert ein wichtiger Partner für Luft- und Raumfahrtunternehmen. Vor wenigen Wochen ist die Mondmission „Artemis 1“ von Schaeffler-Partner NASA erfolgreich gestartet. Mit an Bord: Technik aus Unterfranken. Ingenieure von Schaeffler Aerospace in Schweinfurt haben Kugellager für Hochgeschwindigkeits-Triebwerkspumpen entwickelt und in die USA geliefert. Alles top secret!

Die Triebwerke stammen von der Firma Aerojet Rocketdyne. „Mit mehr als zwölf Millionen PS ist die Aerojet Rocketdyne RS-25 der stärkste Antrieb, den es auf unserem Planeten gibt“, sagt Armin Necker, Geschäftsführer von Schaeffler Aerospace. Die Rakete ist mit vier RS-25-Triebwerken bestückt. Jedes hat ein Gewicht von mehr als drei Tonnen und einen Durchmesser von etwa zweieinhalb Metern. Eine besonders wichtige Aufgabe erledigen dabei die Turbopumpen, in denen Hochpräzisionslager von Schaeffler Aerospace verbaut sind. Die Pumpen fördern den Treibstoff mit einem Druck von etwa 450 bar und den Oxidator Sauerstoff mit etwa 300 bar in die Brennkammer. Dabei erreichen die Hochdruckpumpen Drehzahlen von etwa 35.000 und 24.000 Umdrehungen pro Minute. Sie tun das, ohne dass sie mit Öl oder Fett geschmiert werden könnten, da flüssiger Wasserstoff und Sauerstoff unter –200 Grad Celsius kalt sind. Geschmiert werden die Lager nur vom Raketensprit, nämlich flüssigem Sauerstoff und Wasserstoff, heruntergekühlt auf –200 Grad Celsius. Für die Wälzlager entwickelte Schaeffler den extrem robusten und korrosionsbeständigen Werkstoff Cronidur 30, der mittlerweile auch in vielen weiteren Bereichen Anwendung findet.

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Am 16. November 2022 startete die unbemannte Mondmission "Artemis 1"© NASA/Joel Kowsky
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Raketentriebwerke mit Schaeffler-Lagern in den Turbopumpen© NASA