KI im Cockpit

Von Carsten Paulun
Künstliche Intelligenz (KI) dringt in alle Lebensbereiche vor – auch ins Flugzeugcockpit. Das Ziel: Digitale Assistenten sollen das Fliegen smarter und sicherer machen und mittelfristig den ­Co-Piloten ersetzen. Und nicht nur den: Was im Cockpit funktioniert, könnte auch anderswo eingesetzt werden.
© kool99 (iStock)

Der Flug UPS Airlines 1354 war ein typischer Frachtflug in der Nacht. Pilot Cerea Beal Jr. schob um 04:03 Uhr morgens die Schubregler nach vorn und der Airbus A300 hob ganz normal von der Startbahn des Flughafens Louisville im US-Bundesstaat Kentucky ab. Der Autopilot brachte Beal Jr. und Co-Pilotin Shanda Fanning bis zur Lande­position am Flughafen Birmingham, Alabama. Da die Hauptlandebahn 6/24 an diesem Morgen gesperrt war, musste Flug 1354 auf Start- und Landebahn 18 ausweichen. Diese verfügte nicht über ein vollständiges Instrumentenlandesystem (ILS), sodass Co-Pilotin Fanning die für die Landung nötigen Wegpunkte manuell und in der richtigen Reihenfolge in den Flight Management Computer laden musste. Dabei unterlief ihr ein verhängnisvoller Fehler. Auch auf vom Bordcomputer angezeigte Warnungen regierte niemand im Cockpit. „Oh, oh Gott!“ schrie Beal, als die Maschine 1.480 Meter vor der eigentlichen Landebahn 6/24 auf dem Boden in mehrere Teile zerschellte und in Flammen aufging. Beide Piloten kamen ums Leben. Aufgrund der Aufnahmen des Voicerecorders an Bord kamen die Ermittler zu dem Schluss: Pilot und Co-Pilotin waren übermüdet und unkonzentriert.

Zwar wird das Fliegen immer sicherer (siehe auch Info-Element nächste Seite), aber auch zehn Jahre nach dem Absturz von UPS Airlines 1354 zählen Sekundenschlaf, Dauermüdigkeit und die damit verbundene mangelnde Konzentration zu den Hauptursachen bei Flugunfällen. Bei einer Umfrage der European Cockpit Association ECA unter 6.800 Piloten aus 31 Staaten gaben 49,6 Prozent an, in den vier Wochen vor der Umfrage ein bis vier Mal für mehrere Sekunden eingeschlafen zu sein. 20 Prozent der Unfälle, die durch menschliches Versagen herbeigeführt wurden, sind laut einer Studie des Versicherers Allianz auf Piloten zurückzuführen, die zehn Stunden oder länger im Dienst waren. Einer der Gründe: fehlende Cockpitbesatzungen. Nach einer Studie des Beratungsunternehmens Oliver Wyman fehlen aktuell fast 19.000 Pilotinnen und Piloten weltweit. Sowohl Airbus als auch Boeing gehen davon aus, dass aufgrund steigender Verkehrsnachfrage in naher Zukunft etwa 500.000 neue ­Piloten benötigt werden. Die lassen sich nicht schnitzen – aber vielleicht programmieren.

Erfassen, analysieren und eingreifen

Schon heute sind moderne Jets in der Lage, selbst durch Turbulenzen automatisiert zu fliegen. Die Systeme sind aber auf aerodynamische Modelle und definierte Szena­rien eingestellt, daher erfordern Grenzsituationen ein menschliches Eingreifen. Entwicklungssprünge in der KI-Technologie sollen zukünftig noch mehr digitale Autonomie ins Cockpit bringen.

Dabei verfolgen die Entwickler mehrere Ansätze. ­Neben einer gesteigerten Sicherheit spielen auch Effizienz und Wirtschaftlichkeit eine Rolle. Doppelt besetzte Cockpits mit Piloten und Co-Piloten werden immer schwieriger zu realisieren sein. Die Lösung sind Single Pilot Operations, also Ein-Mann/Frau-Besatzungen mit virtuellem Co-Piloten.

46 %

aller Flugunfälle mit Todesfolge ereignen sich bei der Landung oder dem Ladeanflug. Die Startphase (Start, erster Steigflug) kommt auf 21 %, der Flug auf Reisehöhe hingegen nur auf 9 %.

Quelle: Boeing, erfasster Zeitraum 2013–2022

Als Einstiegslösung auf dem Weg dahin könnte die KI-gestützte Beurteilung von Gesundheit und Flugtauglichkeit der Piloten zum Einsatz kommen. So hat das britische Start-up BlueSkeye AI eine Software entwickelt, die mithilfe von Gesichtserkennung und Stimmanalyse Beschwerden wie Müdigkeit, Schmerzen, Depressionen, Stress oder gar Angstzustände erkennt. „Wir messen mentale Zustände und können Piloten warnen, bevor sie tatsächlich einnicken“, erklärte Michel Valstar, Gründer und CEO von BlueSkeye AI. Beal und Fanning hätten ihren verhängnisvollen Flug möglicherweise gar nicht angetreten, wenn die Daten ihrer Fluguntauglichkeit vorgelegen hätten.

KI- und Automatisierungsexperten am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gehen einen Schritt weiter. Der dort heranwachsende Air Guardian soll Pilotinnen und Piloten nicht nur per Eye-Tracking analysieren und bei außergewöhnlichen Werten Alarm schlagen, sondern im Notfall sogar die Kontrolle über das Flugzeug übernehmen können – als virtueller Co-Pilot.

KI muss fliegen lernen

Auch im Next Generation Intelligent Cockpit, kurz NICo, das Forschende beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) entwickeln, soll ein virtueller Kollege den Flugkapitän unterstützen. Das Anforderungsprofil an einen solchen digitalen Assistenten ist gewaltig, denn ein Flugzeug zu führen ist hochkomplex. Neben der umfangreichen Technik gilt es ebenso, äußere dynamische Faktoren wie das aktuelle und zukünftige Wetter (Gewitter, Wirbelschleppen, Vereisung) sowie die Verkehrsdichte in der Luft bis hin zu anspruchsvollen Start- und Landebedingungen in Entscheidungen mit einzubeziehen. Jeder Flug ist eine Rechnung mit einer unvorhersehbaren Anzahl an Unbekannten.

KI im Cockpit
Speedpool© Speedpool

Aktuelle KI-Systeme stoßen bei einer solchen Komplexität an ihre Grenzen. Ihr Hauptproblem: Sie häufen ihr Wissen in Trainingsphasen an und rufen es dann ab. Aber wie soll man das Unvorhersehbare trainieren? Hier setzen beispielsweise die ­Liquiden Neuronalen Netze (LNN) an, die das MIT bei seinem Air Guardian einsetzt. Solche neuronalen Netze der nächsten Generation können nicht nur große Datenmengen verarbeiten, sondern auch in Echtzeit lernen, sozusagen Training on the Job. Mit jedem Flug, mit jeder Gefahrensituation wird der virtuelle Co-Pilot routinierter.

Fliegen wird immer sicherer

Aber reichen die erlernten Routinen einer KI, um intuitiv richtig zu handeln? So wie Flugkapitän Chesley „Sully“ Sullenberger, der den Airbus A320 des US-Airways-Fluges 1549 im Januar 2009 nach Ausfall der Triebwerke durch Vogelschlag entgegen aller Wahrscheinlichkeit sicher auf dem New Yorker Hudson River notwasserte. Alle 155 Menschen an Bord überlebten. Sullenberger griff bei seiner Entscheidungsfindung auch auf die abgespeicherten Erfahrungen von über 20.000 Flugstunden zurück. Die Zukunft wird zeigen, ob auch künstliche Intelligenzen in Notsituationen aus Intuition heraus wider die Wahrscheinlichkeit handeln können.

Der Remote-Co-Pilot

Eine Alternative zum virtuellen Co-Piloten ist der Remote-Co-Pilot. Diese Technologie soll ermöglichen, dass ein menschlicher Co-Pilot ferngesteuert und in Echtzeit auf das Flugzeug zugreift und es überwacht, selbst wenn er nicht physisch im Cockpit präsent ist. Durch fortschritt­liche Kommunikations- und Steuerungssys­teme kann der Remote-Co-Pilot aktiv in Entscheidungsprozesse eingreifen und bei der Bewältigung von Herausforderungen unterstützen.

Der Remote-Co-Pilot hat im Einsatz einen digitalen Zwilling des Cockpits des Flugzeugs vor sich, welches er übernehmen soll. Der Remote-Co-Pilot kann mehrere One Pilot Operations gleichzeitig betreuen, weil er nur in Notfällen eingreifen muss. Daher hilft auch diese Lösung, die angespannte Personallage zu entschärfen. Eine zu lösende technische Herausforderung: „Um tatsächlich ein Flugzeug vom Boden aus in Echtzeit fernsteuern zu können, benötigen wir hinsichtlich Stabilität, Sicherheit und Latenz deutlich bessere Datenverbindungen“, erklärt Christian Niermann, der am DLR am Remote-Co-Piloten arbeitet.

KI im Cockpit© DLR
Kommunikation im Fokus

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass speziell für komplexe, dynamische Umgebungen wie Flugzeuge entwickelte künstliche Intelligenzen Fähigkeiten entwickeln, sich flexibel an volatile Bedingungen anpassen zu können. Das gilt auch für die Kommunikation im Cockpit. Aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit, Echtzeit-Lernfähigkeit und dynamischen Topologie soll beispielsweise das Liquide Neuronale Netz des MIT sehr gut darin sein, lange Textsequenzen in natürlicher Sprache zu verstehen und dort auch Emotionen herauszuhören. Alles Fähigkeiten, die den Mensch-Maschine-Dialog auf einen neuen, vereinfachenden Level heben. Das ist Konsens aller Entwickler: Die Interaktion zwischen Mensch und KI muss so intuitiv wie möglich sein. Nichts ist gefährlicher, als in einer Gefahrensituation das Stressniveau durch komplizierte Bedienprozesse zu steigern.

„Liquide Neuronale Netze stellen sicher, dass die KI das menschliche Urteilsvermögen nicht ersetzt, sondern ergänzt, was zu mehr Sicherheit und Zusammenarbeit in der Luft führt.“

Ramin Hasani, KI-Experte am Massachusetts Institute of Technology

Kommunikation ist auch auf anderer Ebene immer wichtiger: Der wachsende Luftverkehr plus die zunehmende Gefährdung durch Wetterphänomene erfordern eine stärkere Vernetzung des Flugzeugs mit seinem Umfeld. Hier kann die KI der Pilotin oder dem Piloten beim Umgang mit den Bordsystemen und bei den notwendigen Entscheidungen helfen, den Flug sicher fortzuführen oder sicher abzubrechen. Das gilt insbesondere beim Starten und Landen, den stressigsten und gefährlichsten Flugphasen.

Das System soll dabei nicht nur die aktuell herrschenden äußeren Randbedingungen wie Wetter- und Verkehrslage erfassen, sondern auch auf Plausibilität kontrollieren. Die Überwachung der Luftdatensysteme spielte eine wichtige Rolle, da diese äußeren Umweltbedingungen und -einflüssen ausgesetzt sind, was zu Problemen durch Vereisung, Verschmutzung oder Vogelschlag führen kann. Damit zukünftige automatische Funktionen robuster gegen Systemfehler (insbesondere Sensorfehler) sind, soll der virtuelle Co-Pilot durch analytische Redundanz Ersatzsensorwerte aus anderen vorhandenen Sensoren generieren. Fehlerhafte Sensordaten, die beispielsweise im Oktober 2018 im Zusammenspiel mit einer mangelhaften Ausbildung und Vertrautheit der Besatzung mit dem daran gekoppelten Flugassistenzsystem MCAS zum Absturz einer Lion-Air-Boeing führten, dürften so auffallen und entsprechende Notfall­szenarien in Gang setzen.
„Liquide Neuronale Netze stellen sicher, dass die KI das menschliche Urteilsvermögen nicht ersetzt, sondern ergänzt, was zu mehr Sicherheit und Zusammenarbeit in der Luft führt“, unterstreicht Ramin Hasani, der die LNN am MIT mit entwickelt hat.

„Die Flexibilität, die KI-Systeme haben müssen, um einen hochkomplexen Vorgang wie das Fliegen zu beherrschen, erleichtert ihnen auch das Eindenken in andere Anwendungsbereiche. Das Air-Guardian-System ist nicht starr, sondern kann je nach den Anforderungen der Situation angepasst werden, um eine ausgewogene Partnerschaft zwischen Mensch und Maschine zu gewährleisten“, sagt MIT-Forscher Lianhao Yin. Solche KI-gestützten kooperativen Kontrollmechanismen könnten daher im Downsizing auch in Autos, Drohnen oder der Robotik als vielseitigeHelfer eingesetzt werden. Die KI der nächsten Generation ist also im Landeanflug.