Integrative Innovationen
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September 2019

Integrative Innovationen

Das Leben mit Behinderung bringt große Herausforderungen mit sich – moderne Technik kann bei der Bewältigung helfen. Aber auch Nicht-Behinderte können von den Innovationen profitieren.

Der Mechaniker Guiseppe Pellegrino Turri verliebte sich in die schöne Gräfin Carolina Fantoni da Fivizzano. Sie schrieben sich Liebesbriefe, aber die Frau erblindete nach und nach, ihre Schrift wurde unleserlich. Um nicht auf ihre Briefe verzichten zu müssen, konstruierte Turri Anfang des 19. Jahrhunderts eine Maschine aus Schlüsseln und Metallarmen, die mit Buchstaben bestückt waren. Wenn die Gräfin eine Taste drückte, schlug einer der Arme auf ein Blatt Papier – die erste Schreibmaschine war erfunden. Und aus der Schreibmaschine ging bekanntlich später die Tastatur hervor, die es uns bis heute ermöglicht, Texte elektronisch und in rasender Geschwindigkeit zu schreiben und einen Computer zu bedienen. Andere Quellen gehen davon aus, dass der Bruder der Gräfin die Maschine erfunden hat, um seiner blinden Schwester zu helfen, Turri hingegen soll die Maschine lediglich verbessert haben. Ganz gleich, welcher Version man glaubt, es gibt in der Geschichte viele technische Errungenschaften, die ursprünglich nur deshalb erdacht wurden, um behinderten Menschen zu helfen. Vom Transistor über Scanner und Touchscreen bis zum Audiobook – sie wurden alle für behinderte Menschen erfunden und entwickelten sich später zu Mainstream-Produkten. Und auch heute noch gibt es Entwicklungen für behinderte Menschen, die die Basis für die Zukunftstechnologien von morgen sind.

Integrative Innovationen© Peter Wehowsky

​Die Möglichkeit, ein Auto zu fahren, ist immer noch Voraussetzung, um gerade in ländlichen Regionen mobil zu sein

Constantin Grosch
Ohne Auto kein Beruf, keine Aktivitäten

Constantin Grosch aus Hameln nutzt zum Autofahren eine Technologie namens Drive-by-wire, die es ihm ermöglicht, auch mit eingeschränkter Armfunktion ein Auto zu lenken. „Die Möglichkeit, ein Auto zu fahren, ist immer noch Voraussetzung, um gerade in einer ländlichen Region, wo ich lebe, mobil zu sein“, sagt der Rollstuhlfahrer, der aus seinem E-Rollstuhl heraus sein Auto steuert. Es sei für ihn Grundvoraussetzung, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. „Ohne diese Möglichkeit könnte ich in meiner Region keinem Ehrenamt, keinem Beruf und keiner Freizeitaktivität dauerhaft nachgehen.“ Die Technologie, die Constantin Grosch nutzt, kommt von Paravan, einer Firma, die auf den Umbau und Anpassungen für behinderte Menschen spezialisiert ist. Allerdings ist die Technologie nicht mehr nur für Autos von behinderten Kunden interessant, denn der Zukunftsmarkt der selbstfahrenden Autos braucht diese Schlüsseltechnologie für das autonome Fahren. Diese Autos sind insbesondere auf eine sichere und hochzuverlässige Aktorik wie zum Beispiel Lenkfunktionen angewiesen. Deshalb ist Schaeffler mit Paravan bereits 2018 ein Joint Venture eingegangen, um diese Technologie unter anderem bei seinem kleinen und wendigen Fahrzeugkonzept Schaeffler Mover nutzen zu können.

Über eine Milliarde Kilometer haben Behinderte mit dem Drive-by-wire-System von Paravan zurückgelegt. In einem Joint Venture mit Schaeffler findet die Technologie jetzt Einzug ins autonome Fahren

​Auch für Christian Bayerlein aus Koblenz erleichtert Technologie den Alltag. Er hat stark eingeschränkte Arm- und Handfunktionen und nutzt einen E-Rollstuhl. Der Informatiker hat sich viele seiner technischen Hilfsmittel selbst optimiert oder einfach angepasst. Sein Smartphone bedient er über ein Bluetooth-Maus-Modul, das in seinen Rollstuhl integriert ist. Er nutzt dafür einen Mini-Joystick. Auch einen Kabel-Receiver mit Webinterface hat er in sein System integriert. „Oft ist es so, dass ich etwas lösen möchte und dann schaue, was man mit Technologie tun kann.“ Seine Haustür öffnet ein Smartlock namens Nuki, für das er ein Webinterface geschrieben hat. So kann er vom PC aus mit Spracherkennung die Tür öffnen. „Die ganze Smarthome-Technologie kommt aus dem Behindertenbereich und ist jetzt für den Massenmarkt angepasst worden“, sagt Bayerlein.

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Die ganze Smarthome-Technologie kommt aus dem Behindertenbereich

Christian Bayerlein

Und dennoch sieht Bayerlein nicht die Technologie allein als Allheilmittel an. „Bessere Technik darf die Gesellschaft nicht davon abhalten, Barrierefreiheit herzustellen.“ Auch Pflegeroboter und sogenannte Exoskelette, die gelähmten Menschen das Gehen ermöglichen sollen, sieht er skeptisch. „Meine Assistenten brauchen teilweise Jahre, um mich gut zu unterstützen, ohne mir Schmerzen zu bereiten und mich stabil und bequem hinzusetzen.“ Man müsse genau wissen, wie man ihn anfasst, wenn man ihn zum Beispiel in den Rollstuhl hebt. „Außerdem halte ich den menschlichen Faktor für wichtig, bei einem Pflegeroboter würde mir das fehlen.“ Exoskelette empfindet er als „Hype“. „Für manche Leute und Einsatzgebiete mag das toll sein, aber irgendwie hat es auch etwas von einem Fetisch des Normativen“, sagt er.

Treppauf, treppab mit dem Rollstuhl

Viel mehr begeistern kann er sich für eine Entwicklung aus der Schweiz. Der Scewo ist ein völlig neues Konzept eines E-Rollstuhls, der noch in diesem Jahr an die ersten Kunden ausgeliefert werden soll. Zum einen kann der Scewo Treppen fahren, was in einer nicht barrierefreien Umgebung durchaus praktisch ist. Aber das ist gar nicht mal das, was Christian Bayerlein an dem Schweizer Gefährt am meisten begeistert. Es ist vor allem das Design: „Der Rollstuhl wirkt überhaupt nicht medizinisch. Das finde ich wirklich innovativ.“

Das Aussehen des Rollstuhls habe für ihn wirklich etwas mit Inklusion zu tun, denn auch behinderte Menschen wollten „cool“ sein. Er wolle sich mit seinem Rollstuhl identifizieren können, und das sei beim Scewo einfach der Fall. Deshalb könne er sich auch vorstellen, dass dieser Rollstuhl irgendwann gar nicht mal nur von behinderten Menschen genutzt werden könnte, sondern einfach als Fortbewegungsmittel für alle, die lieber sitzen wollen. Bei einer zunehmend älteren Bevölkerung wäre das durchaus denkbar. Und dann wäre wieder mal eine Erfindung für behinderte Menschen zum Mainstream-Produkt für alle geworden.

Apps für Blinde

Seeing AI – Sehhilfe fürs Smartphone
Seit seiner Erfindung ist das Smartphone zum Hilfsmittel Nummer eins für blinde Menschen geworden. Microsoft hat mit der App „Seeing AI“ eine Art Schweizer Messer für blinde User geschaffen. Die App nutzt künstliche Intelligenz, um Schilder oder Dokumente zu lesen. Sie erkennt Barcodes und Personen, wenn man sie vorher gespeichert hat. Sie kann Geld klassifizieren und Szenen von Fotos beschreiben. Außerdem dient sie als Farberkennungssystem und kann Lichtintensitäten in Töne umwandeln. Je heller die Umgebung, desto höher ist der Ton. All diese Funktionen kann die App in Millisekunden ausgeben und ist so zu einem wichtigen Werkzeug für blinde Menschen im Alltag geworden.

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Künstliches Auge: Die App „Seeing AI“ übersetzt Bilder in Sprache© Microsoft

Aira – der Flughafen-Navigator
Wer blind ist und sich auf einem Flughafen zurechtfinden muss, brauchte bislang so gut wie immer eine Assistenz vor Ort, um sein Gate oder die Sicherheitskontrollen zu finden. Die App „Aira“ nutzt künstliche Intelligenz (artificial intelligence, AI) und Remoteunterstützung (remote assistance, RA), um blinde Menschen an Orten wie Flughäfen die Orientierung zu erleichtern oder sie bei anderen Herausforderungen im Alltag zu unterstützen. Nutzer werden mit speziell ausgebildeten Mitarbeitern verbunden, die über die Kamera im Handy oder über eine Kamera-Brille sehen können, was gerade um den Nutzer herum passiert. So können sie ihm den Weg weisen oder bei anderen Problemen behilflich sein.

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Schaeffler-Mitarbeiter Gerd Goesswein (M.) nimmt die Urkunde von AfB entgegen© Schaeffler
Doppelter Nutzen

Schaeffler unterstützt mit gebrauchter IT-Hardware Umweltschutz und Inklusion und bekam für sein sozial-ökologisches Wirken eine Urkunde von der AfB (Arbeit für Menschen mit Behinderung) überreicht. Darum geht es: Im vergangenen Jahr hat Schaeffler 8.970 IT-Geräte, vor allem PCs, Notebooks und Flachbildschirme, an die AfB übergeben. Die ausgemusterte Hardware war größtenteils noch voll funktionsfähig: Mehr als 83 Prozent der Geräte konnten direkt weitervermarktet werden. Bei Notebooks entsprach die Quote sogar 96 Prozent. Defekte Geräte wurden zerlegt und an zertifizierte Recyclingbetriebe übergeben. Durch die Kooperation von Schaeffler und AfB wurden 611.478 Kilo Eisenäquivalente, 442.108 Kilo CO2-Äquivalente sowie 1.362.718 kWh Energie eingespart. Letzteres entspricht dem durchschnittlichen Jahresverbrauch an Strom von 648 Zwei-Personen-Haushalten. Bereits seit 2008 kooperiert Schaeffler mit Europas größtem gemeinnützigen IT-Unternehmen, indem sie gebrauchte Hardware für die Datenlöschung, die Aufbereitung und den Wiederverkauf an AfB abgeben. Durch die Rückführung der Geräte in den Wirtschaftskreislauf wird Elektroschrott vermieden und natürliche Ressourcen werden geschont. Außerdem kommt AfB durch die Partnerschaft mit Schaeffler seinem Ziel näher, langfristig 500 Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung zu schaffen.

Christiane Link
Autorin Christiane Link
Die Journalistin Christiane Link ist in Rheinland-Pfalz und Hessen aufgewachsen, bevor sie an der Universität Hamburg Politikwissenschaft studierte. Heute lebt sie in London und bezeichnet sich selbst als „Geek“. Sie probiert gerne neue Technologien aus und sieht ihren Rollstuhl als Accessoire an. Als Kind hatte sie einen der ersten farbigen Rollstühle ab Werk, die es überhaupt gab.