Idee + X = Erfolg
Spurloses Plastik
Start-up: Traceless Materials (16 Mitarbeiter)
Gründung: 2020
Idee: Eigentlich wollte sie „nur“ ihre Doktorarbeit als Verfahrensingenieurin vorantreiben, jetzt hält Anne Lamp vielleicht den Game Changer gegen die globale Plastikflut in ihren Händen: ein Granulat aus Agrarabfällen, etwa aus der Produktion von Maisstärke. Aus diesem Grundmaterial entwickelte die Hamburgerin einen natürlichen Kunststoff, eine Art Plastik aus Naturfasern. Ein sogenannter Biopolymer. Chemisch nicht verändert, ohne schädliche Zusatzstoffe und Lösungsmittel. Laut erster Ökobilanz verursachen Produktion und Entsorgung des Plastikersatzes bis zu 87 Prozent weniger CO2-Emissionen als Neukunststoffe. Reißfest und wasserabweisend soll das Material dennoch sein und multioptional einsetzbar: als Folie für Lebensmittel-Verpackungen sowie bei der Produktion von Hartplastikteilen oder als Beschichtungen für Pappe. Lamp verrät: „Unser Verfahren ist ‚back to the roots‘. Schon die ersten Kunststoffe vor 100 Jahren waren Naturstoffe.“ Cellophan zum Beispiel, das aus Zellulose hergestellt wird und komplett abbaubar ist. „Irgendwann hat die Petrochemie das alles abgelöst und die Technologien sind in Vergessenheit geraten“, erläutert Lamp. 2 bis 9 Wochen braucht das Biomaterial von Traceless (deutsch: spurlos), um vollständig kompostiert zu sein.
Umsetzung: Noch während ihrer Forschungsarbeit kam Anne Lamp der Gedanke: Diese Idee muss man groß denken. Über ein Start-up-Förderprogramm tat sie sich mit der Strategieberaterin Johanna Baare zusammen. Gemeinsam gründeten sie Traceless Materials. Der Ansatz des Start-ups ist ein ganzheitlicher, auch die Produktion soll umweltfreundlich sein. Das Traceless-Granulat soll eine direkte Alternative zu dem sein, was Chemiekonzerne anbieten. Für ihre Idee haben die beiden Gründerinnen schon mehrere Millionen Euro Förder- und Investorengelder eingesammelt.
Hürden: Hunderte Start-ups weltweit probieren sich seit Jahren an umweltfreundlichen und erdölfreien Kunststoffen. Mit Erfolg. Problem: Die meisten Alternativen sind teurer in der Herstellung als die aktuellen, erdölbasierten Kunststoffe – in einem sehr preissensitiven Wettbewerb ein echter Fallstrick. Traceless soll hingegen in industriellen Produktionsmaßstäben hergestellt preislich konkurrenzfähig sein. Grundvoraussetzung: „Dafür müssen wir ganz schnell ganz groß werden“, weiß Lamp.
Nächste Schritte: Der erste Big Player als Partner ist gefunden. Zusammen mit dem deutschen Versandriesen Otto arbeitet Traceless an einer nachhaltigen Versandtüte. In diesem Jahr soll zudem erstmals in größerem Stil produziert werden. Die Pilotanlage steht bereits.
3D-Pioniere
Start-up: Hyperganic (50 Mitarbeiter)
Gründung: 2017
Idee: Eine künstliche Intelligenz, die Gegenstände vollautomatisch für den 3D-Druck konstruiert. Entwickler müssen die KI lediglich mit Anforderungen an das Produkt füttern und den Druck starten. Die Idee reifte, als sich Serienunternehmer Lin Kayser 2012 einen 3D-Drucker zulegte – eigentlich für eine ganz andere Start-up-Idee. „Dann aber dämmerte es mir. Wenn man an Molekülverbände denkt, die algorithmisch bewegt werden können, kann man alles entwerfen, was physikalisch möglich ist, und es dann auf einem industriellen Drucker ausgeben.“
Umsetzung: Was lange währt, wird gut. Bereits ab 2014 entwickelte Kaysers Partner Michael Gallo, einst Pionier für die digitale Bildbearbeitung im Film, die grundlegende Technologie, während Kayser zu zahllosen Zentren für additive Fertigung rund um die Welt reiste, um die Bereitschaft für eine Serienfertigung auszuloten. Kayser: „Im Laufe der Zeit haben wir die Technologie so weit entwickelt, dass wir mit Drittentwicklern zusammenarbeiten können. Wir ziehen es vor, dass unsere Kunden mit unserer Plattform ihre eigenen Anwendungen entwickeln und ihr eigenes geistiges Eigentum schaffen.“
Hürden: Neben technologischen Herausforderungen mussten vor allem die Kunden ins Boot geholt werden. Kayser: „Wir mussten beweisen, dass 3D-Druck auch anders funktionieren kann. Dass Objekte mithilfe von Computercodes konstruiert werden können, anstatt sie mit CAD-Programmen manuell zu bearbeiten.“
Nächste Schritte: Ende 2022 soll die Plattform der breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden.
Arztbesuch via App
Start-up: Teleclinic (mehr als 100 Mitarbeiter)
Gründung: 2015
Idee: Ade Virenhölle Wartezimmer! Schon lange vor der Pandemie erschuf die studierte Juristin Katharina Jünger (Bild) eine digitale 24/7-Videosprechstunde – die erste in Deutschland. Mit nur 24 Jahren eine echte Pionierin. Als Tochter von Ärzten sei sie es gewohnt gewesen, immer direkt Hilfe bei Beschwerden zu erhalten. Diesen Zugang wollte sie jedem ermöglichen.
Umsetzung: Gemeinsam mit einem Mediziner und einem Softwareentwickler setzte sie das Projekt Arzt-App um. Das Unternehmen verdient anteilig an den Behandlungskosten der Ärzte.
Hürden: Weil andere Länder wie Schweden das Fernbehandlungsverbot früher aufgehoben haben, ist die internationale Konkurrenz groß.
Nächste Schritte: Das Start-up will mithilfe einer Kooperation mit der Online-Apotheke DocMorris noch mehr Kunden und Mediziner (aktuell mehrere Hundert) für die Online-Behandlung begeistern.
Der Sattmacher
Start-up: Chowberry (mehr als 10 Mitarbeiter)
Gründung: 2014
Idee: Oscar Ekponimo erinnert sich gut an das Gefühl, hungrig zu sein. „Schon als Kind habe ich gesagt: Eines Tages sorge ich dafür, dass andere nicht dieselben Erfahrungen machen müssen.“ Fast 20 Jahre später hat er sein Wort gehalten. Der ausgebildete Software-Ingenieur entwickelte eine App, die überflüssige Lebensmittel den Armen Nigerias zugänglich macht. Das Prinzip: Einzelhändler scannen ihre Lebensmittel ein, je nach Bedarf wird dann der Preis stufenweise reduziert, je näher das Ablaufdatum rückt. Das System schickt an bedürftige Kunden sowie an Hilfsorganisationen eine Nachricht.
Umsetzung: Ekponimo schloss viele Partnerschaftsverträge mit NGOs und Händlern ab: „Wir helfen Einzelhändlern, ihre Nahrungsmittelverluste um 80 Prozent zu reduzieren.“
Hürden: Die Erreichbarkeit. Viele seiner potenziellen Kunden haben kein Handy.
Nächste Schritte: Bis zu 100.000 Geringverdiener-Haushalte will Ekponimo versorgen. Langfristig soll die App den globalen Hunger bekämpfen.
„Grasholz“
Start-up: Fibonacci (mehr als 25 Mitarbeiter)
Gründung: 2018
Idee: Hanf ist für einige junge Leute nur ein Produkt, ihr Bewusstsein zu „erweitern“– nicht so für Greg Wilson (Bild), der auf der Suche nach umweltfreundlichen Holzalternativen schon als Student mit Biomaterialien experimentierte. HempWood, so heißt Wilsons Produkt aus gepressten, sojaverklebten Hanffasern, sei zu 100 Prozent biologisch abbaubar. Außerdem sehe es aus wie Eichenholz, sei aber 20 Prozent widerstandsfähiger und deutlich nachhaltiger, da Hanf in nur sechs Monaten nachwächst.
Umsetzung: Wilson holte sich notwendiges Know-how an der Murray State University (Kentucky/USA), um 2019 HempWood auf den Markt zu bringen. Für die Herstellung gründete Wilson eine Produktionsstätte in Kentucky, Herz der US-amerikanischen Nutzhanf-Industrie. Fibonacci baut seinen Hanf möglichst nah an der Fabrik an, um CO2-Emissionen beim Transport zu vermeiden.
Hürden: Das größte Hindernis verschwand 2018, als der amerikanische Gesetzgeber Nutzhanf legalisierte. Diskutabel ist der Faktor Nachhaltigkeit. Der Hanf-Anbau benötigt große Flächen. Will man keine Wälder roden, bleiben nur die Flächen für die Lebensmittelproduktion übrig.
Nächste Schritte: Fibonacci plant durch die Einführung neuer Produkte, möglichst viel schützenswertes Eichen- durch „Hanfholz“ zu ersetzen.
Highspeed-Marktforschung
Start-up: Appinio (ca. 120 Mitarbeiter)
Gründung: 2014
Idee: Zu langsam, zu teuer, keine gute Datenqualität – Jonathan Kurfess hielt nichts von klassischen Umfragen zum Verbraucherverhalten. Stattdessen wollte er die schnellste Marktforschung der Welt realisieren. Eine digitale Plattform, die es ihren Kunden ermöglicht, innerhalb kürzester Zeit spezifische Zielgruppen anzusprechen. Die Fragen gehen via Push-Nachricht direkt raus an die App-Nutzer, die Antworten kommen innerhalb weniger Minuten oder Stunden zurück. Die Umfrageteilnehmer können dabei spielerisch Punkte sammeln und diese für soziale Projekte spenden oder in Gutscheine umwandeln.
Umsetzung: Nicht die ikonische Silicon-Valley-Garage, aber fast … Eine acht Quadratmeter große Abstellkammer nahe dem Hamburger Hafen war die Keimzelle von Appinio. Nach seinem BWL-Studium gründete Kurfess gemeinsam mit einem IT-Experten Appinio. Ohne richtiges Produkt, ohne Geld. „Und ohne zu wissen, wie man ein Unternehmen führt“, erzählte der CEO in einem Podcast. Dann springt Fortuna ein. Spirituosen-Hersteller Jägermeister hatte ein kleines Budget übrig. Der erste Auftrag. Kurfess: „Zum Glück hat es funktioniert.“
Hürden: Zwar zählt Appinio mittlerweile mehr als 700 Unternehmen zu seinen Kunden und über eine halbe Million aktive Nutzer, trotzdem sitzt die Konkurrenz (Google, Facebook) im Nacken.
Nächste Schritte: Appinio will zum größten Consumer Panel der Welt werden, ein Portal für Verbraucher, deren Kaufverhalten beobachtet wird.
Digitales Akku-Recycling
Start-up: Circunomics (13 Mitarbeiter)
Gründung: 2019
Idee: E-Autos haben ein Problem: Ihre Batterien haben meistens nach ein paar Jahren ausgedient. Was dann? Wegwerfen oder recyceln? Für Gründer Patrick Peter keine Frage, denn: „Alte Akkus sind keinesfalls schrottreif.“ Sie enthalten wiederverwertbare Rohstoffe oder können für andere Zwecke wie z. B. Energiespeicher daheim eingesetzt werden. Also ersann der Frankfurter MBA-Absolvent Peter einen digitalen Marktplatz, auf dem Autobauer, Zweitnutzer und Verwertungsfirmen mit gebrauchten Batterien handeln und diese so in den Kreislauf zurückführen.
Umsetzung: Strategische Partnerschaften im Mobilitätsbusiness und Know-how – vor allem Know-how. Eine tragende Säule, auf die Circunomics baut. Jeder im Team bringt etwas mit ein. Der eine verfügt über Erfahrung in der Digital- und Automobilbranche, der andere in der Batterie- und Energieindustrie oder in der Kreislaufwirtschaft. Etwa Gründer Cesar Prados, der als Technischer Direktor schon Blockchain-Lösungen für die Europäische Weltraumbehörde ESA entwickelt hat. Solch dezentralen Datenbanken sind entscheidend für das Start-up, da Circunomics mit digitalen Batterie-Zwillingen arbeitet, um den Zustand und den Wert einer Batterie mittels KI-Technologie zu analysieren. Dafür greift das Unternehmen auf Informationen von Autoherstellern, Ladestadionbetreibern und Zulieferern zurück.
Hürden: Die Leute von der Vision einer nachhaltigen Batteriewertschöpfungskette zu überzeugen, war wohl die größte Hürde. Patrick Peter: „Die Challenge war, den Paradigmenwechsel zu schaffen. Hin zu einer Kooperation. Denn nur mit Zusammenarbeit kann eine effektive und profitable Batterieindustrie ohne unnötige Ressourcenverschwendung realisiert werden. Als Gründer braucht man viel Durchhaltevermögen.“
Nächste Schritte: Bis 2025 will das Start-up 1,2 Millionen Akkus vermitteln. In einem weiteren Ausbauschritt sollen bis 2030 zehn eigene Recyclinganlagen geschaffen werden, in denen Batterien mit einer Kapazität von 10 GWh fit für ein zweites Leben gemacht werden sollen. „Durch ein zweites Batterieleben wird der CO2-Fußabdruck einer Batterie um bis zu 50 Prozent reduziert“, sagt CEO Patrick Peter.
Schadenseher
Start-up: Compredict (25 Mitarbeiter)
Gründung: 2018
Idee: Autobauer lieben Planbarkeit. Die Erfahrung sammelten die beiden angehenden Maschinenbau-Ingenieure Stéphane Foulard und Rafael Fietzek schon während ihres Studiums. Entsprechend hat sich ihr Start-up zur Aufgabe gemacht zu prognostizieren, wie stark einzelne Bauteile im Fahrzeug belastet sind und wann sie voraussichtlich ausfallen werden. Wie das? Compredict legt Nutzungsprofile von Fahrzeugen an, zapft die zig im Auto verbauten Sensoren an und wertet sie mittels Algorithmen aus.
Umsetzung: Schon in ihren Doktorarbeiten an der TU Darmstadt haben sich Foulard und Fietzek mit digitalen Lösungen zur Online-Lastüberwachung auseinandergesetzt. Dank einer ersten Finanzierungsrunde nahm das Start-up Fahrt auf. Wichtig: Absolute Diskretion. Autobauer haben es nicht gerne, wenn man ihnen unter die Motorhaube schaut.
Hürden: Neben der Angst vor Industriespionen, die in der Automobilbranche aggressiv agieren, stehen die Gründer vor dem Problem, hochqualifizierte Ingenieure zu finden.
Nächste Schritte: Bislang beschränkt sich der Service auf B2B-Kunden. Der Plan ist, auch einen Service für Endkunden zu entwickeln.
Blitzlader
Start-up: StoreDot (mehr als 100 Mitarbeiter)
Gründung: 2012
Idee: Mithilfe einer Batterie, die binnen fünf Minuten zu 100 Prozent aufgeladen ist, die „Reichweitenangst“ therapieren, die viele Kunden von einem E-Auto-Kauf abhält.
Umsetzung: Im Mai 2021 schloss StoreDot einen Rahmenvertrag zur Serienfertigung mit einem chinesischen Produzenten. Der große Vorteil für Hersteller: Die Schnelllade-Batterien können in bestehenden Fertigungslinien für Lithium-Ionen-Batterien produziert werden. StoreDot kooperiert mit Global Playern der Autobranche und hat schon mehrere Hundert Millionen Euro Startkapital eingesammelt.
Hürden: Den Batterieinhalt mittels neuartiger Elektrolytlösungen und Nanomaterialien so zu gestalten, dass die Batterie auch nach mehr als 1.000-Ladezyklen ihre Leistung behält.
Nächste Schritte: Im Jahr 2024 soll die Serienfertigung für globale Fahrzeughersteller starten.
3 Fragen an...
... Carsten Merklein, bei Schaeffler verantwortlich für die Entwicklung neuartiger Fertigungstechnologien. Der Automobil- und Industriezulieferer kooperiert mit zahlreichen Start-ups weltweit, unter anderem auch mit dem Münchener Start-up Hyperganic (siehe oben).
Wie kann man sich die Zusammenarbeit zwischen einem Konzern und einem jungen Start-up vorstellen?
Die Zusammenarbeit ist kreativ und ergebnisorientiert. Es macht Spaß, frei von der Leber weg über Technologien und Problemlösungen zu diskutieren und diese kurzfristig umzusetzen. Wir als Konzern profitieren vom gelebten „Out of the box“-Denken. Auf der anderen Seite können Konzerne Start-ups bei der Industrialisierung ihrer Produkte unterstützen oder Input geben bezüglich eventuell erforderlicher Produktanpassungen.
In welcher Phase eines Start-ups bringt eine Vernetzung mit einem Kernpartner aus der Industrie den größten Mehrwert? Inwiefern helfen Innovationsplattformen wie die Start-up Autobahn?
Je früher man sich als Unternehmen mit einem Start-up vernetzt, desto mehr Gestaltungsmöglichkeiten hat man und desto größer ist die Chance, gemeinsames geistiges Eigentum und ein Alleinstellungsmerkmal zu generieren. Man darf dabei aber die Arbeitsweise eines Start-ups nicht mit den eigenen Maßstäben und Anforderungen messen, sonst wird die Kooperation scheitern. Innovationsplattformen helfen dabei ungemein, die richtigen Start-ups für die eigenen Fragestellungen zu finden. Durch ihr „Casting“ ist sichergestellt, dass der Reifegrad der Innovationen schon messbar ist und nicht nur eine „Luftnummer“.
Know-how, Manpower, Investment – worauf kommt es an, wenn ein Big Player wie Schaeffler mit einem jungen Technologieunternehmen kooperiert, um eine Idee zum Erfolg zu führen?
Das alles sind notwendige Voraussetzungen, aber um erfolgreich zu sein, muss man offen sein, sich auf neue Lösungen einzulassen und überzeugt sein, dass der eingeschlagene Weg trotz Rückschlägen oder Gegenwind zum Erfolg führt. Andererseits darf man ein totes Pferd nicht weiter füttern – also: wenn es nicht passt, dann passt es eben nicht.