Gemeinsam forscher forschen
Am 16. Mai 1960 gelingt Theodore Maiman, einem gerade einmal 32 Jahre alten Physiker der Hughes Research Laboratories in Malibu/Kalifornien, Bahnbrechendes: Er und sein Team schießen den ersten Laserstrahl der Welt ab. Bahnbrechend ist das Ereignis zumindest aus heutiger Sicht: Die moderne Technikwelt ist ohne Laser schwer vorstellbar. Der ultrakonzentrierte Lichtstrahl wird in der Fertigungstechnik (u. a. zum Schneiden, Bohren, Schweißen) ebenso eingesetzt wie in der Medizin (u. a. Tumorbestrahlung, Netzhaut-OP), der Analytik und Messtechnik, in Alltagsanwendungen wie Scannerkassen oder Laserdruckern und ebenso in der Mobilität, zum Beispiel bei Lidar-Sensoren fürs autonome Fahren. Aber damals, vor nunmehr über 60 Jahren, schießt der erste Laserstrahl der Technikgeschichte ins Nichts. Oder wie es Irnee D’Haenens, einer von Maimans Mitstreitern, augenzwinkernd formuliert: Der Laser ist eine Lösung, die nach einem Problem sucht. Besser gesagt: nach einer industriellen Verwertung der Idee. Erst als Automobil- und Flugzeughersteller in den 1970er-Jahren den Mehrwert von Lasergeräten für das Schneiden und Schweißen von Metall erkennen, setzt sich die Technologie durch und bekommt den nötigen Schub zu Weiterentwicklungen für viele weitere Einsatzbereiche. Happy End einer spät aufblühenden Beziehung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft.
„Im modernen Innovationsmanagement spricht man bei Forschungsergebnissen ohne konkretes Anwendungsfeld wie im Falle des Lasers auch von einem Technology Push. Das Gegenstück ist der Market Pull, also ein Forschungsauftrag aus der Industrie, bei dem die Wissenschaft helfen soll, ein konkretes Problem zu lösen. Die technische Entwicklung, wie wir sie heute kennen, wäre ohne diese beiden Varianten der interdisziplinären Zusammenarbeit nicht möglich“, erklärt Robert Klarner, der am Standort Oberpfaffenhofen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) für Technologietransfer und Wirtschaftskooperationen zuständig ist.
Praxisnähe immer mehr im Fokus
Dass eine Schlüsseltechnologie wie das Laserlicht heutzutage fast ein Jahrzehnt auf den Durchbruch wartet, hält er für eher unwahrscheinlich. „Die Tendenz in der Technology-Push- und auch der Grundlagenforschung geht eindeutig dahin, dass schon bei Projektbeginn die Praxisrelevanz, also die Anwendung am Markt, dargelegt wird“, sagt DLR-Experte Klarner. Dadurch kann die Grundlagenarbeit wissenschaftlicher Forschung auch schneller in marktreife Produkte überführt werden. Auch Dr. Viola Gerlach vom Potsdamer Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung hält das für elementar. In einem Blog-Beitrag auf der Website des Instituts schreibt sie: „Wissenschaftliche Forschungsprozesse und Ergebnisse müssen sich in Zukunft noch viel mehr die kritische Frage nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz gefallen lassen. Sie werden sich daran messen lassen müssen, welchen realen Mehrwert sie für die Weiterentwicklung der Lebensqualität und Nachhaltigkeit der Gesellschaft bringen.“
Dass neben der erhöhten Praxisrelevanz der Wissenschaft auch die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft sowohl im Technology-Push- als auch im Market-Pull-Bereich intensiviert werden muss, steht für DLR-Experte Klarner fest. Zum einen, weil die rasant beschleunigte technische Entwicklung bei gleichzeitig steigender technologischer Komplexität dies erfordert; zum anderen, um mit solchen Kooperationen einen gemeinsamen Hebel zu schaffen, damit die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft hin zur Nachhaltigkeit gelingen kann.
Transformation gelingt nur im Schulterschluss
Angesichts der großen Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft geht es aber nicht nur um die Bündelung technologischer Kompetenzen, sondern – wie das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in einem Positionspapier festhält – auch um das Minimieren finanzieller Risiken durch die Lastverteilung auf mehrere Schultern. Ein weiterer Punkt, der laut Fraunhofer für eine engere Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft spricht, ist, dass eigene Ressourcen sowohl im Bereich Wissen als auch beim Kapital angesichts der gestiegenen Komplexität oftmals schlicht nicht mehr ausreichen, um den gesamten Entwicklungsprozess allein zu stemmen.
Uwe Wagner, Vorstand Forschung und Entwicklung der Schaeffler AG, unterstreicht diese Positionen. Er sagt: „Globale Herausforderungen und Transformationen in Mobilität, Digitalisierung oder Energieversorgung lassen sich nur im engen Schulterschluss zwischen Gesellschaft, Wissenschaft und Industrie meistern.“ Trotz eines eigenen hohen Entwicklungs-Outputs – das Unternehmen belegt seit Jahren einen Top-3-Spitzenplatz bei den Patentanmeldungen – kooperiert Schaeffler daher seit Langem erfolgreich mit wissenschaftlichen Innovationsschmieden wie DLR, Helmholtz und Fraunhofer. Das bereits im Jahr 2013 initiierte universitäre Kooperationsprojekt SHARE – die Abkürzung steht für Schaeffler Hubs for Advanced Research – hat sich zu einem globalen Forschungsnetzwerk mit weltweit führenden Universitäten entwickelt. An diesen Forschungshubs arbeiten Schaeffler-Mitarbeitende, Promovierende und Studierende des jeweiligen Hochschulpartners Hand in Hand. Forschungs- und Unternehmensinfrastruktur wird synergetisch genutzt. Themen sind Mobilität, Wasserstofftechnologien und erneuerbare Energien sowie Digitalisierung, Robotics und Industrie 4.0.
„Die Tendenz geht zu mehr Praxisrelevanz in der wissenschaftlichen Forschung.“
Die Vorteile für Unternehmen wie Schaeffler bei solchen Kooperationen liegen auf der Hand: Durch den Zugriff auf wissenschaftliche Kompetenzen und Technologien können Innovationen schneller (oder sogar überhaupt erst) auf den Markt gebracht werden und so Wettbewerbsvorteile entstehen. Die wissenschaftliche Institution profitiert im Gegenzug durch Know-how- und Renommee-Gewinn. Aber vor allem auch finanziell. DLR-Experte Klarner erklärt: „Wir erteilen Lizenzen für Technologien, für die Lizenznehmer dann marktübliche Preise zahlen. Für Forschungsleistungen, die wir im Auftrag erbringen, nehmen wir ebenfalls gängige Marktpreise.“
Je nach Markterfolg der Innovation können so erhebliche Summen bei den Wissenschaftsbetrieben landen. Karlheinz Brandenburg, der als Vater des mp3-Formats gilt, schätzt, dass diese Erfindung mit allen dazugehörigen Weiterentwicklungen und Lizenzen seinem damaligen Arbeitgeber, dem Fraunhofer-Institut, mindestens eine halbe bis eine Milliarde Euro an Einnahmen gebracht hat. Und auch für ihn blieb etwas hängen. „Ich konnte ohne Kredit ein Traumhaus bauen und meine eigene kleine Venture-Capital-Firma gründen“, verriet er in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Ohne Risiko kein Erfolg
Um disruptive Innovationen zu entwickeln, müsse in den Forschungs- und Entwicklungsbereichen sowohl in Wirtschaft als auch Wissenschaft „out of the box“ gedacht werden, mahnt DLR-Experte Klarner an. Dass viele disruptive Innovationen der jüngeren Vergangenheit aus den USA kämen, wundert ihn aus mehreren Gründen nicht. Zum einen hat sich dort auch in Forschung und Wissenschaft eine Kultur entwickelt, die ein Scheitern gestattet. Wer wagt, kann scheitern. Wer nicht wagt, kann nicht gewinnen. Pioniergeist statt zu viel Sicherheitsdenken. „In den USA wiegt die ‚fear of missing out‘, also die Angst, einen technologischen Trend mit entsprechenden Marktchancen zu verpassen, gerade bei Unternehmen wie auch Investoren viel schwerer als die Angst zu scheitern“, weiß Klarner. Entsprechend groß ist die Risikobereitschaft bei neuen Forschungsthemen und dem Entrepreneurship.
Punkt zwei ist das hohe Investitionsvolumen von Unternehmen in Forschung und Entwicklung. Laut dem EU Industrial R&D Investment Scoreboard 2021 investieren US-Unternehmen mit 344 Milliarden Euro im Jahr mehr als die Wettbewerber aus der EU (184 Mrd. Euro) und China (141 Mrd. Euro) zusammen. „Und Geld schießt eben Tore – was im Fußball gilt, gilt im übertragenen Sinne auch im Innovationsbereich“, vergleicht Klarner.
Bleiben wir beim lieben Geld: genauer gesagt bei staatlichen Zuschüssen für öffentliche Lehr- und Forschungsinstitutionen. Diese sind in vielen Ländern an den Erfolg in der Vertragsforschung geknüpft. Beim Fraunhofer-Institut wurde diese konsequente Marktorientierung der Forschungs- und Entwicklungsarbeit bereits vor 50 Jahren eingeführt und führte dort zu einem permanenten und nachhaltigen Wachstum. Daher spricht man in Deutschland bei der Koppelung der finanziellen Zuwendungen an den Erfolg der Wissenschafts-Wirtschafts-Kooperationen auch gern vom „Fraunhofer-Modell“.
Räumliche Nähe fördert Kreativität
Ein weiterer wichtiger Impulsgeber für fruchtbare Wissenschafts-Wirtschafts-Kooperationen ist ein kreatives Umfeld. „Cluster, in denen sich Lehre, Forschung, Wissenschaft und Wirtschaft im engen Austausch befinden, sind wahre Innovationsbooster“, sagt Klarner. Gleich und gleich gesellt sich gern. Rund um den Globus haben sich themenbezogene Cluster in Bereichen wie Medizin, Biotechnologie, Luft- und Raumfahrt, Mobilität, Finanzen, IT, Wind- und Solarenergie, Telekommunikation oder Sensorik gebildet. Bekanntestes Beispiel: das Silicon Valley. Entscheidender Impulsgeber für die dortige Clusterbildung war vor über 80 Jahren der damalige Dekan der Stanford-Universität, Frederick Terman. Der Professor der Ingenieurwissenschaften unterstützte 1939 zwei seiner Studenten bei der Gründung ihrer Elektrofirma. Ihre Namen: William Hewlett und David Packard. Heute ist HP eines der größten Technologieunternehmen der Welt. Motiviert durch diesen Erfolg, rief Terman ein Programm für Gründungsförderung ins Leben. Sein Ziel: die Region attraktiv für Ansiedlungen und Firmengründungen von Studenten zu machen. Dafür stellte er ihnen sogar Kapital bereit. Heute spricht man von Venture Capital und Start-ups. In dem 1951 gegründeten Stanford Industrial Park siedelten sich schnell mehr als 150 Firmen an, darunter IBM und Apple. Dass die Stanford University parallel zum Aufstieg des Silicon Valley einen Höhenflug erlebt, unterstreicht die Wechselwirkung solcher Wissenschafts-Wirtschafts-Kooperationen. Die Lehranstalt gehört heute zu den global forschungsstärksten und renommiertesten und ist obendrein die viertreichste Hochschule der Welt.