Fortschritt? Klar! Aber bei mir?
Meistens fängt die Sache harmlos an. Etwa indem die Post einen Brief bringt: „Liebe Nachbarn und Anlieger, wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass die Aufsichtsbehörden die Errichtung eines Windrades auf Ihrem angrenzenden Flurstück genehmigt haben. Endlich kann unser Ort seinen Beitrag für die zukunftsfähige Transformation der Elektrizitätserzeugung leisten. Ihr regionaler Energieversorger“. Statt Windrad und Energieversorger könnte in dem Schreiben auch Kita und Stadtverwaltung stehen („Beitrag zur zukunftsfähigen Bildungspolitik“) oder Vereinigung ökologische Landwirtschaft und Biohof („artgerechte Haltung von Nutztieren wie Rindern und Hühnern“). Der Effekt wäre sicherlich derselbe: Solche Botschaften über zukünftige Entwicklungen stoßen nicht unbedingt auf Gegenliebe. Okay, sauberer Strom ist ja prima, die Kinder brauchen Bildung, ganz dringend sogar, und die Tiere Auslauf – aber doch
bitteschön „Not in my backyard“, also: Nicht in meinem Hinterhof. Bleib mir fern mit Veränderungen!
Fern und nah, außen und innen
Eine egoistische Haltung? Nun ja, das zu be- oder gar zu verurteilen ist eine Frage der räumlichen Distanz. Denn wie würde man selbst reagieren, wenn ein solches Schreiben ins Haus flatterte? Wenn die notwendigen Planungen und Bautätigkeiten vor der eigenen Haustür stattfinden sollten? Plötzlich muss man selbst zum Gemeinwohl beitragen, indem man Windräder, Kitas oder Bahnstrecken als neue Nachbarn bekommt, statt nur davon zu profitieren.
Nimby als Verweigerungshaltung beschäftigt schon seit jeher und immer wieder die Gerichte. Da kommen aufs Land hinausgezogene Städter glatt auf die Idee, den Bauern die krähenden Hähne verbieten lassen zu wollen, und pensionierte Waldorfschullehrer opponieren gegen die Neugründung einer Waldorfschule in jenem Dorf, das sie sich als Ruhesitz auserkoren haben. Hier ist sicherlich eine Grenze der Nachvollziehbarkeit erreicht – auch für Gerichte. Dass man Windräder unschön findet oder Kinderlachen störend, ist kaum justiziabel. Das Geld für die Anwälte ließe sich besser anlegen.
Doch weil die Nimby-Haltung etwas zutiefst Emotionales ist, bleibt das Rationale oft auf der Strecke: Die große Welt da draußen soll funktionieren, aber eben da draußen.
Not in my backyard! Soll Fortschritt doch gern in anderer Leute Hinterhof entstehen! Klingt darin nicht ein wenig das St.-Florians-Prinzip an? „Heiliger Sankt Florian, Verschon’ mein Haus, zünd’ and’re an!“ Nun muss man ja nicht gerade anderen Böses wünschen, vielleicht trifft ein anderes Bild die Nimby-Haltung besser: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“
Ist die Akzeptanz eine Frage der Distanz? Ja, eindeutig. Die Liebe zum Fortschritt schrumpft, je näher er an den eigenen Gartenzaun rückt. Eine Weiterentwicklung, also gesellschaftlicher und auch technischer Fortschritt, muss zwar sein, und da ist jeder Ort recht, solange er „Anderswo“ heißt. Je kleiner der Abstand, desto massiver und emotionaler die Kritik, einfach weil sich die Menschen nun konkret betroffen fühlen – und Angst bekommen. Die zutiefst menschliche Angst vor Veränderung. Denn das Neue bringt stets viele Fragezeichen mitsich. Fragezeichen, die an den Grundmauern der eigenen Lebensplanung rütteln. „My home is my castle“ – und das Windrad, die Bahnlinie, sind der Feind, der diese „Burg“ zum Einsturz bringen will.
Am Garten von Demokraten
Die Nimby-Haltung ist wie eine Trutzburg zum Selbstschutz. Steht die Veränderung vor den Mauern des eigenen backyard, wird die Zugbrücke hochgefahren – Schotten dicht. Nimby als letzte Verteidigungslinie. Maximale Widerstandskraft, minimale Verhandlungsbereitschaft. Aber genau die braucht eine fortschrittsfreundliche Gesellschaft. Was also tun? Geordneter Rückzug: Mit jedem zusätzlichen Meter backyard-Schutzzone wächst die Chance, die unterschiedlichen Interessen besser aufeinander abzustimmen. Kann das Windrad nicht 250 Meter weiter entfernt stehen? Der Autoverkehr der Eltern zur Kita kann doch klüger geregelt werden! Bei entschärfter Bedrohungslage steht nicht mehr das kategorische „Ob“ im Mittelpunkt der Projektplanung, sondern das „Wie“. Das „Nein“ weicht einem „Ja, aber“.
Ein jeder, der im Prinzip die Notwendigkeit bejaht, dass etwas Neues entstehen muss, der hisst in seinem Backyard die weiße Parlamentärflagge der Verhandlungsbereitschaft. Ein nicht zu unterschätzender Akt, denn diese Kompromissfähigkeit ist eine zentrale demokratische Tugend und für die Willensbildung und Entscheidungsfindung einer Gesellschaft mindestens so unabdingbar wie das Kreuz auf dem Wahlzettel alle paar Jahre.
Feilschen für ein Win-win
Generell sollte gelten: Um miteinander zu sprechen, muss man nicht gleich vors Gericht ziehen. Tatsächlich zeigt die Erfahrung, dass fast alle Planungen Spielraum bieten: Abstände zu Wohngebäuden können ausgehandelt werden, Windräder zu bestimmten Zeiten abgeschaltet, Mobilitätskonzepte können den Zubringerverkehr von Kitas reduzieren. Doch muss man dazu möglichst früh miteinander sprechen. Nimby schließt eine konstruktive Kommunikation nicht per se aus. Fordert sie sinnvollerweise sogar ein: Denn wenn der Fortschritt tatsächlich die oft heraufbeschworene Dampfwalze ist, die alles niederreißt, ist es doch besser, man zeigt ihr eine naheliegende Alternativroute auf, bevor sie die eigene Scholle plättet.
Ein solcher Findungsprozess hat ein wenig Flohmarktcharakter: Maximalforderung trifft Minimalangebot, doch mit jedem Hin und Her kommt man einem tragfähigen Kompromiss näher. Und fährt die Emotionen damit runter. So geschieht es mit der Stromtrasse SuedLink, der 700 Kilometer langen Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsleitung, durch die Windstrom von der Nordsee zu den Industriestandorten im Süden fließen soll. Anfangs überirdisch geplant, rief das so viel Widerspruch hervor, dass die Leitungen nun vollständig unter die Erde wandern. Hinter dem Garten bleibt die Wiese leer, und fast alle sind zufrieden.
Industriegesellschaft ohne Industrie? Energiekonsum ohne Energieerzeugung? Natürlich ist das so illusorisch wie utopisch. Doch wenn man Lösungen mitverhandelt hat, fällt es leichter, sie auch mitzutragen – idealerweise sogar davon direkt zu profitieren. Besonders im Bereich der erneuerbaren Energie gibt es immer die Option, die Anlieger zu beteiligen. Kommunale Einrichtungen, von denen alle spürbar profitieren, sind viel konsensfähiger als Planungen, die man den Menschen einfach vor die Nase knallt. Wird klug verhandelt, muss statt der Kröte nur noch ein kleines Fröschlein geschluckt werden.
Nimby kann also zu einer Verbesserung der Beziehungen führen, wenn man nicht nur geben muss, sondern auch nehmen kann. In Nordfriesland hat man für das Opponieren gegen Windräder nur ein müdes Lächeln übrig. Hier gibt es bundesweit sowohl die meisten Windräder als auch die meisten Bürgerbeteiligungen, und mit jeder Umdrehung schaufeln die Rotoren am Ende ein hübsches Sümmchen in die Kassen – die eigenen und die kommunalen. Erneuerbare Energie nutzt hier sowohl dem Gemein- als auch dem Eigenwohl.
Wer sich nun aber so gar nicht darauf einlassen will, seinen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten, der sollte besser auf eine einsame Insel ziehen. Doch Achtung, auch auf See werden Windräder gebaut, und die findet eine große Mehrheit gut. Weil sie für die meisten so schön weit weg sind …