Erst wir, dann ich – dann krank?
Gemeinsam sind wir stark. Das sagten sich schon die Urmenschen, die bei der Feindesabwehr und der Nahrungssuche lieber auf das Kollektiv vertrauten. Neben Reflexen und Automatismen wie Atmung, Vermehrung oder Verdauung hat sich auch das menschliche Bedürfnis nach sozialen Kontakten im Hirnstamm verankert, dem entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil des Gehirns. Die dort verankerten Informationen steuern noch heute maßgeblich unser Verhalten. Der menschliche Hang zur Gruppenbildung ist also angeboren, entsprechend fühlt sich Einsamkeit falsch an.
Der Autor
André Hajek hat Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert. Seit 2021 ist er Professor für Interdisziplinäre Versorgungsepidemiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. In seiner Forschung beschäftigt er sich speziell mit den Ursachen und den Folgen von Einsamkeit im Alter. Er ist überzeugt, dass die Technik viel dazu beitragen kann, Einsamkeit zu bekämpfen. Allerdings, so meint er, ist es entscheidend, dass jeder Einzelne dieses Potenzial auch tatsächlich nutzt.
In der Forschung wird Einsamkeit für gewöhnlich als eine negative Emotion gesehen: eine gefühlte Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen. Diese gefühlte Diskrepanz kann sich auf die Qualität, aber auch die Quantität der sozialen Beziehungen beziehen. Objektive soziale Isolation versteht man hingegen als Mangel an sozialen Aktivitäten wie in Vereinen. Beide sind in der Regel lediglich moderat korreliert. Man kann also beispielsweise einsam sein, aber nicht isoliert – und umgekehrt. Auch sollte allein sein nicht mit Einsamkeit gleichgesetzt werden. So müssen Singles oder Alleinlebende nicht notwendigerweise einsam sein.
Lange hat die Einsamkeits- und Isolationsforschung ein Schattendasein gefristet. Die Covid-19-Pandemie – und die damit einhergehende soziale Distanzierung – brachte die Thematik in aller Munde. Inzwischen weiß man auch, dass Einsamkeit und soziale Isolation nicht nur wichtige Themen älterer Menschen sind, von denen es durch die steigende Lebenserwartung immer mehr auf der Welt gibt, sondern auch junge Erwachsene und Individuen im mittleren Alter davon betroffen sein können. Im Jahr 2021 fühlte sich beispielsweise in der Industrienation Deutschland laut dem sogenannten Einsamkeitsbarometer fast jeder zehnte Mensch einsam.
Höhere Werte zeigten sich insbesondere bei 18- bis 29-Jährigen (14.1 Prozent). Eine Studie aus dem Jahr 2022, die sich auf die Allgemeinbevölkerung 16 Jahre und älter in allen 27 EU-Mitgliedsstaaten bezog, zeigte eine Einsamkeitsprävalenz von rund 13 Prozent auf. Die Werte variierten zwischen knapp 10 (Niederlande, Tschechien, Kroatien und Österreich) und gut 20 Prozent (Irland). Diese Diskrepanzen zwischen den EU-Ländern erklärten sich die Forschenden über kulturelle Unterschiede und Unterschiede in der demografischen Zusammensetzung.
Die Folgen von Einsamkeit und Isolation
Häufig werden Einsamkeit und Isolation als das „neue Rauchen“ bezeichnet, da diese Phänomene sehr negative Auswirkungen auf die körperliche und seelische Gesundheit haben. Laut WHO haben einsame Menschen ein 50 Prozent höheres Risiko, an Demenz zu erkranken, bei Herz- und Gefäßerkrankungen steigert sich das Risiko um 30 Prozent. Da ist es nur logisch, dass auch die Wahrscheinlichkeit, früh zu sterben, massiv ansteigt – um satte 25 Prozent.
Erschwerend kommt hinzu, dass Alleinsein unsere Wahrnehmung verzerrt: So haben einsame Menschen unter anderem ein geringeres Vertrauen in Institutionen wie Polizei, Rechtssysteme und Politik.
Ausweg oder Falle: digitale Medien
Insbesondere wenn Bezugspersonen weiter entfernt wohnen oder man allein und mit eingeschränkter Mobilität lebt, können Technologien Brücken bauen. Ein modernes Smartphone ist hier eine echte Allzweckwaffe. Eine gewisse Technikaffinität vorausgesetzt, stellen Videotelefonate & Co. eine gute Möglichkeit dar, um in Kontakt zu bleiben. Der Übergang zu sozialen Medien wie Facebook, Instagram oder TikTok ist da fließend. Manche lieben sie und manche verteufeln sie, aber der Zusammenhang sozialer Medien mit Einsamkeit und Isolation ist nicht so eindeutig, wie manch einer vielleicht denken würde …
Eine viel beachtete amerikanische Studie konnte vor einigen Jahren einen Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien wie Facebook oder Instagram und einer gefühlt höheren sozialen Isolation bei jüngeren Individuen im Alter zwischen 19 und 32 Jahren in den USA feststellen. Die Autorinnen und Autoren führten dies unter anderem auf idealisierte Profile von anderen Nutzern mit augenscheinlich vielen Kontakten und Veranstaltungen zurück. Schaut man sich solche Profile an, gewinnt man schnell den Eindruck, das Leben eines Einsiedlers zu führen, auch wenn das faktisch nicht der Fall sein muss. Hinweise in sozialen Medien auf Veranstaltungen im Freundeskreis, zu denen man aber selbst nicht eingeladen ist, können das Gefühl der Isolation verstärken.
„Ältere Individuen, die soziale Medien nutzen, sind weniger isoliert als eben jene, die sie nicht nutzen."
André Hajek
Eigene Studien bei Mittelalten und Älteren in Deutschland stellten einen gegenteiligen Effekt fest, sprich: Ältere Individuen, die soziale Medien nutzen, sind weniger isoliert als eben jene, die sie nicht nutzen. Stellt man sich vor, dass man durch soziale Medien auch Kontakte zum Freundeskreis aus der Kindheit oder entfernt lebenden Verwandten halten kann, die man bei schlechter Gesundheit sonst vielleicht nicht in der Form aufrechterhalten könnte, erscheinen diese Ergebnisse sehr plausibel. Dies bestätigte auch eine jüngere Übersichtsarbeit zu dieser Thematik.
Führt die Nutzung digitaler Medien allerdings zu einem extremen sozialen Rückzug – die Japaner sprechen dabei gerne vom sogenannten „hikikomori“ („sich zurückziehen“) – sind Einsamkeit und Isolation programmiert. Die Dosis scheint auch hier das Gift zu machen.
Gaming: Einzelkämpfer oder Teamplayer?
Auch Computerspiele können Einsamkeitstreiber oder -retter sein. Gibt man dem Verlangen nach, immer öfter und länger zu spielen, haben andere Hobbys und reale soziale Kontakte nur noch wenig Platz. Freunde und Familie können sich infolgedessen abwenden. Es kann aber andersherum laufen: Weil man einsam ist, flüchtet man sich in die Gaming-Welt, um dort Bestätigung zu finden, und isoliert sich noch weiter. Auf der anderen Seite sind viele Computerspiele gerade deshalb so erfolgreich, weil sie teambasiert sind. Dort wird über Tastatur oder Headset eifrig gechattet – und das oft in einem globalen Netzwerk. Ohne Kommunikation kein Sieg. In Sachen Interaktion kann so manches Computergame also mit einer klassischen Brettspielrunde mithalten.
Auch ältere Bevölkerungsgruppen könnten übers Gaming den Weg aus der Einsamkeit finden. Bewegungsbasierte Videospiele – wie Bowlen oder Tennis spielen auf Spielekonsolen wie Nintendos Wii – begeistern auch Senioren ohne Spielerfahrung. Man könnte also protektive Effekte hinsichtlich der Einsamkeit und Isolation vermuten. Solche Spiele wurden tatsächlich bereits im Kontext von Einsamkeit untersucht – allerdings noch recht selten und mit unterschiedlichen Ergebnissen. Während eine amerikanische Studie bei Hochaltrigen beispielsweise einen positiven Effekt auf die Einsamkeit nachweisen konnte, wenn man Wii Bowling mit einer zweiten Person spielt (im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die Fernsehen mit einer zweiten Person schaut), zeigte sich in einer zweiten Studie in Singapur kein derartiger Effekt. Petra Möllecken, Leiterin des Altenheims Irmgardisstift Süchteln, hat in der Praxis auf jeden Fall gute Erfahrung mit Wii-Bowling gemacht. In einem Magazin der Caritas verweist sie auf das beim Spielen entstehende Gemeinschaftsgefühl und als weiteren positiven Effekt auf das gesteigerte Selbstbewusstsein der Bewohner, wenn sie Erfolg beim Bowlen haben.
Digitale Motivatoren
Und wie sieht es mit Wearables aus, den digitalen Körperüberwachern, die wir freiwillig mit uns herumtragen, als Armreif, Ring, Uhr oder im Smartphone? Eine eigene Studie zur Hochzeit der Pandemie im Juni/Juli 2020 konnte keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Tragen von Wearables und dem Einsamkeitsgefühl bei Älteren feststellen. Dennoch könnten solche Anwendungen in diesem Bereich zunehmend interessant werden, denn einige Anbieter haben Einsamkeit als menschliche Problemzone ausgemacht und bieten Wearables an, die solche Zustände erkennen können. Ausgewertet werden dafür unter anderem die Anzahl ein- oder ausgehender Anrufe und Nachrichten oder die außerhalb des Hauses verbrachte Zeit. Ähnlich wie der Hinweis auf das bekannte 10.000-Schritte-Tagesziel kann der Wink zur „Kommunikation“ womöglich vielversprechend sein – wenn er sich nicht schnell abnutzen sollte.
Nur ist es mit der Kommunikation oft nicht einfach, gerade ältere Menschen tun sich schwer, neue Kontakte aufzubauen. Es hat sich gezeigt, dass Mehrgenerationenhäuser zwischenmenschliche Interaktionen vereinfachen und so die Lebenszufriedenheit insgesamt positiv beeinflussen. Interessant ist auch die Idee aus Südkorea, Spielplätze inklusive Fitnessparcour für Senioren einzurichten, auf denen sie sich begegnen und betätigen können. Allerdings: Die beste Idee bringt nichts, wenn sie nicht genutzt wird. Es kommt auf jeden Einzelnen an, die vorhandenen Angebote auch zu nutzen. Eine mahnende Erinnerung eines digitalen Helfers kann für den nötigen Motivationsschub sorgen.
Kuscheln mit dem Robo-Hund
Dass Haustiere wie Hunde oder Katzen gute Einsamkeitsbekämpfer sind, ist bekannt. Das Problem mit ihnen: Sie sind pflegeintensiv und können daher nicht in alle Lebenssituationen integriert werden. Animatronische oder auch robotische Haustiere ähneln zwar echten Vierbeinern, sind aber deutlich anspruchsloser. Gelegentliches Aufladen genügt. In der Altenpflege in Japan werden solche putzigen Gesellschafter bereits häufiger eingesetzt. Und auch als Spielgefährten für Kinder bieten sie sich an. Solche Robo-Pets können Bewegungen, Geräusche und sensorische Reaktionen simulieren – wie laufen, bellen oder sogar singen. Aber können sie uns auch soziale Wärme geben? Vor wenigen Jahren hat eine amerikanische Studie dies näher untersucht. Dazu wurde älteren Menschen (65+) ein animatronisches Haustier ihrer Wahl (Hund oder Katze) bereitgestellt, das wie ein gewöhnliches Haustier behandelt werden sollte. Zum Erhalt sowie 30 und 60 Tage später haben die Studienteilnehmer standardisierte Fragebögen ausgefüllt. Tatsächlich: Die Interaktion mit den animatronischen Haustieren reduzierte das Einsamkeitsgefühl und steigerte das Wohlbefinden. Dabei waren die künstlichen Bellos und Kittys verhältnismäßig günstig, die Studienautoren sprechen von 55 bis 110 US-Dollar, und technisch entsprechend wenig ausgefeilt. Eine weitere Studie bestätigt die Erfahrungen: Interaktion wie Kuscheln, Pflegen und Einschlafen mit animatronischen Haustieren reduziert Einsamkeitsgefühle.
Insgesamt steckt die Forschung zur Wirkung von animatronischen Haustieren auf Einsamkeit/Isolation noch in den Kinderschuhen und wirklich belastbare Aussagen dazu fehlen – Stand heute – leider noch. Es ist allerdings schon davon auszugehen, dass diese Forschungslücke zusehends geschlossen wird. Denn: Letzten Endes besitzen animatronische Tiere – wie auch Pflegeroboter – das Potenzial, die informelle wie auch die professionelle Pflege spürbar zu entlasten.
Wenn „wau-wau“ zu „hallo“ wird
Aber nicht nur animatronische Haustiere sind zu erwähnen, auch der beste Freund des Menschen kann als Einsamkeitsgegenmittel durch den technischen Fortschritt möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft noch mehr punkten. Denn was wäre, wenn Pudel, Dackel und Terrier plötzlich unsere Sprache sprechen würden? Die Fortschritte in der KI könnten dies künftig möglich machen. Aber mit welchen Konsequenzen? Intuitiv vermutet man, dass durch die vermeintlich bessere Beziehungsqualität Einsamkeit und Isolation merklich reduziert werden könnten. Aber vielleicht führt die eindeutigere Kommunikation auch zu vermehrtem Streit und Unmut und man sehnt die gute alte Zeit herbei, in der ein Hund einfach nur bellt?
KI könnte auch helfen, Tote lebendig wiederauferstehen zu lassen – als lebensechte Avatare. Sind genügend Audio- und Videodaten vorhanden, kann das mithilfe von künstlicher Intelligenz funktionieren. Dann kommuniziert der Enkel nicht mit Alexa oder Siri, sondern mit der längst begrabenen Oma. Oder beim „Dinner for one “ müsste die vereinsamte Miss Sophie nicht in einer Runde mit leeren Stühlen sitzen, sie könnte mit Hologrammen ihrer verstorbenen Weggefährten anstoßen und plaudern. Längst formiert sich eine sogenannte „Digital Afterlife Industry“, die sich genau auf solche Anwendungen spezialisiert hat.
Fazit und Ausblick
Was bleibt letzten Endes? Technologie ist für Einsamkeit und Isolation ein zweischneidiges Schwert. Versteckt man sich in Cyberwelten vor dem realen Leben, kann dies eindeutig Einsamkeit und Isolation begünstigen. Zum „Guten“ eingesetzt, haben angemessen eingesetzte Technologien aber durchaus das Potenzial, Einsamkeit und Isolation abzumildern. Dieses Potenzial scheint für ältere Menschen sehr groß, insbesondere wenn die Generation, die mit digitalen Technologien aufgewachsen ist („digital natives“), das Rentenalter erreichen wird.