Die Wissenschaft der Verbrecherjagd

Von Dirk Labudde
Moderne Technologien werden zu einem immer schlagkräftigeren Werkzeug bei der Überführung von Täterinnen und Tätern. Dirk Labudde, Leiter des Forensic Science Investigation Lab an der Hochschule Mittweida, gibt Einblicke.
© Mustafa Hacalaki/iStock

Man kennt es aus Krimis oder Thrillern: Ein Kommissar ermittelt, ein, zwei Kolleginnen oder Kollegen assistieren. Fall gelöst. Doch die Zeiten der Zweier- oder Dreier-Teamworks sind in der tatsächlichen Kriminalistik lange vorbei. Hinter der Verbrechens­aufklärung stehen heute verschiedenste Akteure – und in zunehmendem Maße digitale Technologien.

Der Experte
Die Wissenschaft der Verbrecherjagd© Thomas Rodriguez

Dirk Labudde hat Theoretische Physik und Medizin studiert. Seit 2009 ist er Professor für Bioinformatik und digitale Forensik an der Hochschule Mittweida. Als Berater für verschiedene Polizeien der Länder und Staatsanwaltschaften hilft er bei der forensischen Aufklärung von Straftaten und ist als Sachverständiger vor Gericht tätig. 2022 ist sein Buch „Digitale Forensik. Die Zukunft der Verbrechensaufklärung“ erschienen.

Treiber technologischer Entwicklungen in der Kriminalistik ist die Forensik. Der Fachbereich entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Analyse und Systematisierung von Spuren immer mehr ins Zentrum der Ermittlungen rückte. Zuvor konzentrierte sich die Strafverfolgung auf Zeugenaussagen, die – im Gegensatz zu wissenschaftlichen Tatsachen – aber nie objektiv waren. Forensiker hingegen verstehen sich als Wahrheitsforscher. Sie versuchen auf Basis von belegbaren Informationen eine Realität aufzubauen, die vor Gericht Bestand hat. Sie analysieren Schuh- und Fingerabdrücke, DNA-Spuren, Verletzungen sowie Spuren von Hieb-, Stich- oder Schusswaffen.

Ein Forensik-Team, so vielseitig wie das Studienangebot einer Uni

Edmond Locard, ein französischer Arzt und Jurist, gilt als Pionier im Bereich der Forensik. Er formulierte um 1910: „Überall dort, wo er [der Täter] geht, was er berührt, was er hinterlässt, all das dient als stummer Zeuge gegen ihn.“ Heutzutage hinterlassen Täterin oder Täter auch immer mehr ­digitale Spuren, die es nachzuverfolgen gilt, ob mit dem Handy, dem PC, in der Cloud oder als GPS-Daten.

„Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.“

Romanheld Sherlock Holmes

So vielfältig die Spuren, so vielfältig ist auch die personelle Spannbreite in der Forensik. Das bunt zusammengesetzte Teamwork umfasst Mediziner ebenso wie Naturwissenschaftler, Informatiker und Mathematiker, aber auch Anthropologen und Geologen sowie Juristen. Gern erweitern die Teams ihre Blickwinkel je nach Fall mit speziellen Kompetenzen wie etwa von Spieleprogrammierern und KI-Experten. Das Ziel dieses umfassenden Teamworks: Täter mit zielsicheren forensischen Gutachten zu überführen und anzuklagen. Die Erstellung dieser Gutachten gleicht einem Puzzlespiel mit fluiden Teilen. Beim Zusammensetzen entstehen immer neue Bilder. Was wirklich passiert ist, erschließt sich oft erst nach Wochen, Monaten oder Jahren. Forensiker brauchen neben Fachwissen vor allem viel Geduld. Romanheld Sherlock Holmes formulierte es einst so: „Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.“ Dieser Satz beschreibt sehr gut den Entstehungsprozess forensischer Hypothesen und deren Überprüfung durch mehrere Iterationen hindurch. Die Resultate dieser hypothesengetriebenen Prozesse münden in einer Rekonstruktion des Tathergangs. Über Tat­motiv und -entschluss sagen forensische Untersuchungen übrigens nichts aus.

Digitaler Zwilling von Tatort und Opfer

Ein Beispiel aus unserer Praxis im Forensic Science Investigation Lab: Im Juli 2019 wird ein 17 Jahre alter Teenager aus Hessen mit schwerem Schädelbruch im spanischen Ferienort Lloret de Mar tot aus dem Meer gezogen. Die spanische Polizei geht davon aus, dass er betrunken von den Klippen ins Meer stürzte. Ein Unfall also. Doch unsere forensischen Simulationen zeigen, dass das unwahrscheinlich ist. Für die dreidimensionale Ablaufrekonstruk­tion haben wir digitale Zwillinge der Steilküste und des Opfers aufgebaut. Außerdem haben wir den Obduktionsbericht, Zeugenaussagen, den Fundort im Meer und sogar dortige Strömungsverhältnisse in unsere Analyse einbezogen. Von Dutzenden Positionen aus ließen wir den virtuellen Dummy anschließend immer und immer wieder von der Küste hinunterstürzen. Nur ein einziges Mal landete er im Wasser, allerdings von einer Stelle aus, die vom Tatbestand auszuschließen ist. „Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein“ – Sherlock Homes hätte die gleichen Schlüsse gezogen wie meine Kollegen und ich: Ein Unfall, wie von der Polizei angenommen, kann nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen werden. Wie der Teenager nun zu Tode kam, konnten wir allerdings auch nicht darlegen.

Digitaler Wettlauf Gut gegen Böse

Aber bevor wir weiter in digitale Zwillingswelten eintauchen, lassen Sie uns kurz zurückblicken. Ab den 1990er-Jahren entwickelt sich die digitale Welt als neuer Tat- und Spurenort. Computer werden zum Massenprodukt, das Internet tritt seinen Siegeszug an und wenig später das Smartphone. All das verändert die Arbeits- und Lebensweise der Menschen fundamental. Natürlich nutzen und missbrauchen auch Kriminelle alle digitalen Errungenschaften. Doch bis die Strafverfolgungsbehörden beginnen, die digitale Welt als Tatort ernst zu nehmen und bei Ermittlungen auch an diesen Bereich zu denken, dauert es eine Weile. Seitdem läuft der Wettlauf zwischen Cyberkriminellen, analogen Gaunern mit digitalem Werkzeugkasten auf der einen Seite und den Verfolgungsbehörden auf der anderen Seite des Gesetzes in immer schnellerem Tempo. Doch langsame Prozesse, Datenschutzvorgaben und fehlende Fachkräfte geben den Tätern immer wieder Vorsprung. Im Vergleich zur analogen Welt haben Straftäter es daher immer noch ungleich leichter, unbemerkt und ungestraft an digitalen Tatorten davonzukommen. Doch das ändert sich gerade …

Die Wissenschaft der Verbrecherjagd
Mit den eigenen Waffen schlagen: Um Kriminelle überführen zu können, greifen IT-Forensiker auch auf KI-Systeme zurück, die mit Daten aus dem Darknet trainiert werden© Jackie Niam/iStock

Das erfolgreiche Eindringen französischer Strafverfolger in die verschlüsselten Kommunikations­kanäle des Kryptohandy-Anbieters EncroChat unterstrich unlängst die digitale Schlagkraft der Gesetzeshüter – auch gegen analoge Verbrecherbanden. Monatelang lasen die Ermittler in Echtzeit Chatverläufe mit, kopierten und sicherten Millionen von Daten. Die Franzosen holten außerdem die Niederlande und Großbritannien mit ins Boot. Als die Abhöraktion im Sommer 2020 auflog, hatte die Polizei längst genug Informationen zusammen­getragen. Europaweit folgten Razzien und Festnahmen. Drogen, Waffen und gestohlene Waren wurden beschlagnahmt – auch in Deutschland, wo die europäische Polizeibehörde Europol die brisanten Daten ans Bundeskriminalamt weiterreicht hatte. Diese Aktion leitete eine Wende im digitalen Kampf gegen die organisierte Kriminalität ein.

Zwar füllten andere Kryptohandy-Anbieter die Lücke – Sky ECC zum Beispiel, ein Kryptodienste-Anbieter mit Sitz in Kanada – doch genauso schnell schlugen die Ermittler erneut zu. Von den weltweit mehr als 170.000 Sky-ECC-Kunden wurden 70.000 abgehört, der sichergestellte Datensatz soll viermal so groß sein wie der von EncroChat. Und wieder folgten Hunderte Festnahmen, mehrere Tonnen Drogen wurden sichergestellt.

KI hilft bei der Spurensuche

Die IT-Forensik hat – auch wenn sie sich noch im Aufbau befindet – entscheidenden Anteil an diesen Ermittlungserfolgen und weitet ihren Arbeitsbereich stetig aus. Aktuell konzentriert sich der größte Teil der dortigen Fallanalysen auf digitale Taten und Orte, also auf sogenannte Cybercrime-Delikte wie etwa Datendiebstähle, digitale Erpressungen oder Verbrechen im Darknet wie das Verschicken und Teilen von Kinderpornografie.

Generell muss man aber sagen: Es gibt keine reinen Cyber-Straftaten. Kein Verbrechen beginnt allein im Rechner und endet dort. Wir alle, also auch Täter und Opfer, leben in einer Welt, in der sich zwischen digitalem und realem Raum nicht mehr trennen lässt: Wir benutzen täglich digitale Werkzeuge und hinterlassen dabei Spuren, die es im Fall einer Straftat zu sichern und zu deuten gilt. Die Herausforderungen, mit denen die Ermittler und IT-Forensiker dabei konfrontiert werden, sind immens. Denn die Datenflut ist riesig und wächst kontinuierlich: Allein innerhalb eines Chats werden meist neben Textnachrichten massenweise Bilder und Videos geteilt, die es dann auszuwerten gilt. Auf beschlagnahmten Datenträgern wie Computern oder Handys finden sich Terabytes an möglichen Spuren – Verdächtiges und Strafbares gilt es von Unverdächtigem abzugrenzen. Bislang werten vor allem Menschen diese Daten aus. Doch das ist längst nicht mehr angemessen zu bewältigen – daher werden überall auf der Welt Software-Lösungen entwickelt, bei denen künstliche Intelligenz die Datensichtung und -analyse übernimmt. So hat ein südkoreanisches Forscherteam das KI-Modell DarkBERT entwickelt, das mit Daten von Hackern und Cyberkriminellen trainiert worden ist.

Neue Methoden kommen hinzu, Rahmenbedingungen fehlen

Ein anderer Bereich der IT-Forensik beschäftigt sich mit digitalen Methoden, um analoge Verbrechen aufzuklären, denn auch diese gibt es noch immer reichlich. Die Auswertung der digitalen Kommunikationsmittel von Täter und Opfer ist hierbei längst Standard. Der digitale Zwilling der Tat in Lloret de Mar ist hingegen ein gutes Beispiel, wie moderne Technologien die Fallanalyse mindestens so entscheidend verändern werden, wie es Fingerabdrücke und DNA-Abgleiche dereinst getan haben.

Neben getreuen 3D-Abbildungen analoger ­Tatorte und ihrer Spurenlage im Computer für Tatablauf­simulationen arbeitet die IT-Forensik an weiteren Anwendungen. So lassen sich Fotos und Videos mit digitalen Werkzeugen rekonstruieren, verbessern und genauer auswerten. Inzwischen können wir sogar Menschen allein anhand ihrer Anatomie in Überwachungsvideos identifizieren. Auch reicht uns ein Schädel, um Gesichter unbekannter Toter in 3D-Modellen zu rekonstruieren. Dabei bedient sich die IT-Forensik Software-Grundlagen, die in anderen Feldern wie der Architektur, der Spiele- und Filmwelt schon lange genutzt werden. Algorithmen lassen sich mittlerweile sogar dazu nutzen, Vorhersagen zu erstellen, wo und wann es am wahrscheinlichsten ist, dass eine Straftat passieren könnte.

Allerdings fehlen noch vielfach die juristischen Rahmenbedingungen, um all dies beweiskräftig vor Gericht einsetzen zu können. Um entsprechende Richtlinien ausarbeiten zu können, muss klar sein, wie genau diese Systeme arbeiten, wie Algorithmen programmiert werden und auf welcher Basis Informationen erstellt werden. Datenschutzkriterien sind einzuhalten. Auch Risiko- und Folgenabschätzungen müssen mit einfließen in die Erarbeitung solcher Rahmenbedingungen.

Was oft auch noch fehlt, ist das Verständnis bei Ermittlerinnen und Ermittlern, dass sie bei jeder Tat das digitale Leben von Opfern wie Tätern mitdenken und im Blick haben. Sie müssten wissen, wie sie diese digitalen Leben recherchieren und auswerten. Mehr noch: Sie müssten auch wissen, welche digitalen Möglichkeiten es gibt, um Ermittlungen zu verbessern. Tatort-Rekonstruk­tionen, Ablauf­simulationen sowie digitale Video- und Bildanalyse­werkzeuge bieten ja vielfältige Möglichkeiten, um Hypothesen zu überprüfen. Es liegt natürlich auch an uns IT-Forensikern, den Ermittelnden dieses Wissen zur Verfügung zu stellen. Meine Vision einer effizienten, modernen Ermittlungsarbeit besteht daher in einem neuen Verhältnis zwischen Kriminalisten und digitalen Forensikern. Was wir brauchen, sind gut ausgebildete Expertinnen und Experten aus beiden Bereichen, die jeweils genug Wissen von der Arbeit des anderen haben, um enger als heute üblich ­zusammenzuarbeiten.