Die Welt Maschinen
Die Welt um uns herum, unser Körper, das Papier dieses Magazins – woraus genau besteht das eigentlich alles? Klar, wir wissen mittlerweile, alles ist aus Atomen aufgebaut. Und die Atome bestehen aus noch kleineren Bausteinen, aus Elektronen, Neutronen und Protonen. Doch sind das wirklich die kleinsten Bausteine, aus denen alles aufgebaut ist? Oder gibt es noch andere, womöglich noch kleinere Teile? Und wie war das ganz am Anfang, wie ist aus dem Nichts plötzlich das Universum geworden? Um die größten Fragen der Menschheit zu beantworten, untersuchen Forscher weltweit die kleinsten Bausteine des Kosmos. Ihr wichtigstes Hilfsmittel dabei sind die sogenannten Teilchenbeschleuniger.
Wie der Name schon sagt, beschleunigen sie elektrische Teilchen wie Protonen oder Atome, sodass diese mit einer enormen Geschwindigkeit aufeinanderprallen. Forscher versuchen damit einen kurzen Blick zu erhaschen auf neue, noch kleinere Teilchen, die so womöglich entstehen.
Die Länge macht’s
Es gibt verschiedene Arten von Teilchenbeschleunigern, mit denen sich jeweils hohe Geschwindigkeiten der Teilchen erreichen lassen.
Der Linearbeschleuniger ist eine sehr lange Röhre, deren Wand aus verschiedenen sogenannten Driftröhren besteht. Diese Driftröhren erzeugen eine elektrische Spannung, die ständig wechselt. Ähnlich wie bei einem Magneten wird so das Teilchen von der jeweils vorderen Driftröhre angezogen und von der hinteren Driftröhre abgestoßen. Auf diese Weise beschleunigt das Teilchen mit jeder Driftröhre, die es passiert. Damit hier die gewünschten hohen Geschwindigkeiten erreicht werden, muss ein Linearbeschleuniger mehrere Kilometer lang sein.
Das Synchrotron funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip, allerdings sind hier noch Magneten installiert, die die Teilchen leicht ablenken. Auf diese Weise lassen sie sich in einer Art Kreisbahn lenken, die sie immer wieder durchlaufen. Das ermöglicht eine hohe Beschleunigung, verbraucht aber trotzdem noch sehr viel Platz, weil die Kurven nicht scharf sein dürfen. Der weltweit größte Teilchenbeschleuniger nach dem Synchrotron-Prinzip, der sogenannte Große Hadronen-Speicherring (LHC, Large Hadron Collider), steht in der Nähe von Genf in der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) und hat eine Länge von knapp 27 Kilometern.
Mit Lichtgeschwindigkeit auf Kollisionskurs
Doch nicht nur die Größe der Beschleuniger ist atemberaubend angesichts der winzigen Teilchen, um die es geht. Die Anlagen sind auch extrem aufwendig konstruiert. Um die kleinsten Teilchen auf der runden Bahn zu halten, braucht es im LHC in Genf 1.232 Magnete, jeder von ihnen ist 14 Meter lang und wiegt 35 Tonnen. Außerdem muss die Anlage enorm gekühlt werden: auf minus 270 Grad Celsius! Dazu kommt, dass die winzigen Teilchen während der Beschleunigungsphase nicht mit anderen Teilchen zusammenstoßen sollten, entsprechend hat man ein sogenanntes Ultrahochvakuum innerhalb der Röhre geschaffen, hier gibt es keine Luft und auch sonst so gut wie keine Atome.
3.000 Menschen
arbeiten am CERN, das damit das weltweit größte Forschungszentrum auf dem Gebiet der Teilchenphysik ist. Noch größer ist die Zahl der Gastwissenschaftler: Mehr als 10.000 Experten aus 85 Nationen sind in CERN-Experimente an der „größten Wissensmaschine der Welt“ involviert. Sie suchen beispielsweise nach sogenannten Supersymmetrie- oder kurz SUSY-Teilchen, die auch eine Erklärung für die Dunkle Materie liefern könnten, die Universen zusammenhält. Sie aufzuspüren ist noch kniffeliger und energieaufwendiger als der Nachweis des Higgs-Bosons.
Doch der Aufwand lohnt sich. Ein Teilchenbeschleuniger wie der LHC schafft Extreme, die weltweit einmalig sind: Wenn die Teilchen aufeinanderprallen, haben sie beinahe Lichtgeschwindigkeit. Die kleinsten Teilchen durchlaufen den 27 Kilometer langen Tunnel 11.000-mal in der Sekunde. Wenn die Ionen ineinanderknallen, entstehen Temperaturen von über 4.000 Milliarden Grad! Das ist rund 300.000-mal heißer als das Zentrum der Sonne. Dabei „zerkochen“ Quarks und Gluonen zu einer Art Plasma-Ursuppe, die Wissenschaftler so nahe wie nie zuvor an die Bedingungen heranführt, die während des Urknalls herrschten.
2009
rückt die Verfilmung von Dan Browns Thriller „Illuminati“ die Arbeit des CERN ins Rampenlicht. Im Roman wird aus der Forschungsanstalt eine sichtbare Menge Antimaterie entwendet – reine Fiktion. Zwar werden am CERN tatsächlich rund eine Million „Antiprotonen“ pro Jahr hergestellt, aber die im Film dargestellte Menge zu produzieren ist unmöglich. Allein um ein Gramm Antimaterie herzustellen, benötigt man eine Billion Jahre.
Doch all dies muss auch gemessen werden. Dazu dient im LHC der ATLAS-Detektor, ein gigantisches Auffanggefäß für Atomsplitter von 45 Metern Länge und 22 Metern Breite und Höhe. Für die Physiker sind die Detektoren eine Art Hochleistungskamera, die mehr als 40 Millionen Aufnahmen in der Sekunde machen.
Teilchenbeschleuniger wie der Genfer LHC oder auch das DESY in Hamburg bringen die Physik und das ganze Weltverständnis voran, indem sie neue Erkenntnisse schaffen – über das Verhalten der kleinsten Teilchen oder überhaupt erst ihre Existenz. So entdeckten Forscher am CERN in einem Milliarden Euro teuren Experiment ein neues Elementarteilchen, das später als Higgs-Boson bestätigt werden konnte. Der auch „Gottesteilchen“ genannte Winzling hat eine extrem kurze Lebensdauer von cirka 10 bis 22 Sekunden, ist aber – sehr vereinfacht ausgedrückt – dafür verantwortlich, dass Teilchen Masse haben.
Chemiker, Materialwissenschaftler und Biologen erzeugen mit Beschleunigern das hellste Röntgenlicht der Welt (siehe auch Infokasten unten), um verschiedenste Materialien unter die Lupe zu nehmen – von Flugzeugturbinen bis zu lebenswichtigen Proteinen.
Im Einsatz für Medizin und Industrie
Doch für die Forschung sind nur wenige Hundert der weltweit mehr als 17.000 Teilchenbeschleuniger im Einsatz. Ein weiteres großes Gebiet ist die Medizin, genauer: die Strahlentherapie. Denn mit extrem beschleunigten kleinsten Teilchen lässt sich auch Krebs gezielt behandeln. Dazu verwendet man oft etwas kleinere Teilchenbeschleuniger, die sogenannten Zyklotrone. In einer spiralähnlichen Bahn werden hier Elektronen auch mithilfe von Magneten beschleunigt, bis sie schließlich die Wunschgeschwindigkeit erreicht haben. Sie haben oft einen Durchmesser von drei bis vier Metern und lassen sich daher auch noch in Kliniken unterbringen. Etwa 7.000 Teilchenbeschleuniger weltweit werden medizinisch genutzt, um jährlich 30 Millionen Patienten zu behandeln. Die übrigen Anlagen finden sich vor allem in der Industrie, genauer: bei der Produktion von Halbleitern. Mithilfe von Ionenbeschleunigern kann so der Bau von schnellen Transistoren in Chips ermöglicht werden, die sich im Grunde überall in der digitalen Elektronik finden.
Währenddessen produzieren die vor allem auf Erkenntnis ausgelegten Wissenschaftler immer mal wieder neues Wissen. Vergangenen Winter etwa haben Forscher des CERN weitere Details über das physikalische Verhalten des Higgs-Teilchens herausgefunden. Und das ist erst der Anfang. Es warten noch eine Menge großer Entdeckungen in der Welt der kleinsten Teilchen.
DESY und die schnellsten Röntgenbilder der Welt
Fünf Millionen Blitze pro Sekunde kann der neue Röntgenlaser „European XFEL“ (Foto) am Deutschen Elektronen-Synchrotron, kurz DESY, abfeuern – 40.000-mal so viele wie die bisher beste Pulsrate eines Röntgenlasers. Mit der 3,4 Kilometer langen Beschleunigungsanlage, die die schnellsten Röntgenserienbilder der Welt schießt, konnte beispielsweise die bisher unbekannte Struktur eines Antibiotika-Killers enthüllt werden. Dem Röntgenlaser vorgeschaltet ist der mit 1,7 Kilometern weltweit längste supraleitende Linearbeschleuniger – eine DESY-Eigenentwicklung. Neben der Teilchenphysik und Forschung an Photonen sind auch die Entwicklung und der Bau neuer Teilchenbeschleuniger ein Schwerpunkt des DESY. Das Hamburger DESY-Tunnelgeflecht schlängelt sich unterirdisch bis ins benachbarte Schleswig-Holstein. DESY gehört zur Helmholtz-Gemeinschaft, mit der auch Schaeffler bei Forschungsprojekten zusammenarbeitet, und zählt eigenen Angaben zufolge zu den weltweit führenden Beschleunigerzentren. Allein der LHC-Teilchenbeschleuniger produziert pro Jahr so viele Daten, dass sich damit eine Million DVDs befüllen ließen.