Die KI-Revolution
In der Industrialisierung veränderte die Entwicklung der Dampfmaschine alles. Mühsame Handarbeit wurde durch automatisierte Prozesse ersetzt. Die Entwicklung der Elektrizität, von Fließbändern, Robotern und Computern brachte weitere Umwälzungen. Nun also künstliche Intelligenz. Und wenn man der globalen Tech-Elite und den Schlagzeilen der Nachrichtenkanäle Glauben schenkt, bringt uns diese Technologie keine Umwälzung, sondern ein Schleuderprogramm.
Die Drehzahl, mit der KI das Leben auf unserem Planeten umwälzt, ist derart hoch, dass ebenjene globale Tech-Elite unlängst forderte, auf die Entwicklungsbremse zu treten. 1.000 Personen unterzeichneten ein entsprechendes Manifest der Organisation Future of Life, darunter Apple-Gründer Steve Wozniak, Tesla-Chef Elon Musk, Deep-Learning-Pionier Yoshua Bengio und mehrere Entwickler von Googles KI-Tochter DeepMind. Die Kernforderung lautet: „Leistungsstarke KI-Systeme sollten erst dann entwickelt werden, wenn wir sicher sind, dass ihre Auswirkungen positiv und ihre Risiken überschaubar sind.“ Hauptgrund für die Besorgnis: KI-Programme wie ChatGPT können menschliche Interaktion simulieren und anhand weniger Stichworte Texte, Bilder und sogar Videos erstellen. Fähigkeiten, die in Kombination mit krimineller Energie eine Gefahr für unsere Gesellschaft darstellen. Zumal es weltweit kaum gesetzliche Regeln für den Umgang mit KI gibt. Die werden dringend gebraucht, denn der KI-Geist ist längst aus der Flasche und wird sich vielleicht zähmen, aber nicht wieder einsperren lassen.
Auch in der Berufswelt ist KI längst angekommen. Als Übersetzer, als Programmierer, als Analyst – in allen möglichen Bereichen nimmt uns die KI bereits Arbeit ab. Manche würden es eher so formulieren: Sie nimmt uns Arbeit weg. Tatsächlich werden manche Jobs wegfallen – aber andere, neue Berufe werden entstehen. Und wenn die künstliche Intelligenz – sind wir mal so optimistisch – richtig eingeführt und eingesetzt wird in Unternehmen, dann kann sie nicht nur die Produktivität, sondern auch den Einfluss und die Position fast aller Mitarbeitenden um einige Stufen nach oben heben: Aus manchem einfachen Angestellten wird eine Art Abteilungsleiter, der die Arbeit der KI regelt und so den eigenen Output enorm erhöht. Wagen Sie mit uns einen Blick in die nahe Zukunft, die sich schon heute abzeichnet und uns alle betrifft: Die sieben folgenden Punkte beschreiben, wie die künstliche Intelligenz die Arbeitswelt kurz- und mittelfristig prägen und verändern könnte oder es schon tut.
- KI macht Maschinen schlauer
Die Bio-Landwirtschaft wird künftig womöglich noch biologischer – dank künstlicher Intelligenz. So wird bereits an Programmen gearbeitet, in denen Salatköpfe auf dem Feld automatisch analysiert werden und dann nur die Dosis an umweltfreundlichen Pestiziden bekommen, die sie brauchen. Ganz zu schweigen von Futtermaschinen, die den Nutztieren die ideale Menge und Zusammensetzung an Nahrung geben, oder intelligenten Mähdreschern, die selbstständig das Getreide auf dem Feld abernten. Dabei gilt: Je mehr Daten gesammelt werden, in diesem Fall etwa durch das regelmäßige Wiegen von Tieren oder die Entnahme von Bodenproben, desto eher kann künstliche Intelligenz zum Einsatz kommen.
Dieser Grundsatz gilt auch für viele andere Felder. Je mehr Sensoren eingesetzt, je mehr Daten erfasst und analysiert werden, desto umfassender „weiß“ eine künstliche Intelligenz Bescheid, was geschieht, und kann entsprechend handeln. Aber nicht immer sind viele vorhandene Daten eine Voraussetzung für den Einsatz von KI. Wenn es etwa um einfache Übertragen von Dokumenten von einem Dateiformat ins andere geht, braucht es keine Big-Data-Analyse, sondern lediglich die Fähigkeit, ein in einem bestimmten Format vorliegendes Dokument und dessen Eigenschaften und Inhalte zu erkennen und es dann in ein anderes Format zu übertragen. Mithilfe von KI kann so ein wesentliches Problem unserer Zeit besser angegangen werden: Die sogenannte „Interoperabilität“ von Daten, damit sind die Herausforderungen gemeint, dass Daten auf verschiedenen Systemen gleichermaßen lesbar sind.
- KI als Assistent für den Menschen
Nicht nur Maschinen können von KI profitieren, gleiches gilt für den Menschen. Ein paar Beispiele für den Einsatz von KI: Für Anwälte kann die KI in Sekundenschnelle Archive durchforsten und zu aktuellen Fällen vergleichbare Urteile aus der Vergangenheit heraussuchen. Übersetzungsprogramme wie DeepL helfen bei der Entwirrung babylonischer Sprachgewirre und bauen so Barrieren ab. In Banken entwickeln künstliche Intelligenzen Anlagestrategien und -empfehlungen. Und im Bereich Human Resources durchsuchen KIs in wenigen Minuten Tausende Profile von Bewerbern und helfen, den passenden Kandidaten zu finden.
Grundsätzlich ist der Einsatz von künstlicher Intelligenz fast überall vorstellbar. Lediglich der Umfang des Einsatzes ist unterschiedlich. In einem Software-Unternehmen etwa könnte KI künftig die Hauptarbeit machen: Die Programmierer geben Programmieraufträge an eine KI, diese programmiert – und die Menschen überprüfen nur noch, wo Feinschliff vonnöten ist.
Experten mahnen allerdings: Da eine KI nur so gut ist, wie das Datenmaterial, mit dem sie gefüttert wurde, ist es unabdingbar, die Ergebnisse solcher Systeme auf Plausibilität und Validität zu prüfen. Das Tückische: Aktuelle KI-Systeme wie ChatGPT kennen keinen Zweifel. Wenn sie der Überzeugung sind, sie kennen eine Antwort, dann verkünden sie diese vertrauenerweckend selbstbewusst – selbst wenn die Antwort völlig falsch ist. Da es zum Volkssport geworden ist, ChatGPT auf die Probe zu stellen, ist das Internet voll von solchen Falschaussagen der KI. Zudem wirft der KI-Einsatz vermehrt ethische Fragen auf. KI-Experten müssen daher nicht nur technische Kompetenzen aufweisen, sondern auch nach ethischen Prinzipien, Normen, Werten oder Tugenden agieren, um unerwünschte oder gar rechtswidrige Entwicklungen als solche zu erkennen und möglicherweise zu stoppen.
Und was ist, wenn die KI so schnell dazulernt, dass sie nicht mehr Ross, sondern Reiter werden will? Auch bei der Klärung dieser Frage sollten wir uns nicht die Zügel aus der Hand nehmen lassen.
100 Millionen aktive Nutzer hatte die KI-Software ChatGPT nach nur zwei Monaten. Damit ist das Programm die am schnellsten gewachsene Computeranwendung der IT-Geschichte.
- Darum hat KI schon jetzt mehr revolutionäre Energie als die Automatisierung
Der Roboterarm in der Fabrik, der klaglos ein Auto nach dem anderen lackiert. Der Kopierer im Büro, der nicht nur einzelne Seiten kopiert, sondern sie gleich auch noch zu einem Buch zusammenleimt. Der Robo-Koch, der an der heißen Fritteuse cool ein Fast-Food-Menü nach dem anderen bruzzelt. Durch Fortschritte in der Automatisierung konnte der Mensch in den letzten Jahrzehnten an Maschinen immer mehr Routinearbeiten delegieren, also wiederkehrende, immer gleiche „Handgriffe“, die klar definiert und abgegrenzt sind.
Die KI erweitert die Möglichkeit des Delegierens drastisch – nämlich über die Prozesse hinaus, bei denen das physische Machen im Vordergrund steht, auf das mitdenkende Zuarbeiten. Denn KI kann Aufgaben übernehmen, für die Menschen monate- oder gar jahrelang Informationen analysieren und Berechnungen anstellen müssten. „Die Stärke der KI-Systeme ist ihre Fähigkeit, große Mengen an Daten zu analysieren und auszuwerten“, sagt Rahild Neuburger, Akademische Oberrätin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitglied der Plattform Lernende Systeme. Und weiter: „Insbesondere bei wiederkehrenden Führungsaufgaben können KI-Systeme unterstützen, wie dem Erstellen und Verwalten von Dienst- und Schichtplänen, der Aufgabenzuteilung, der Zusammenstellung und Konfiguration von Teams oder bei Budgetkontrollen.“
Über das Tagesgeschäft hinaus kann KI in mittel- bis langfristige strategische Planungen eingebunden werden. „KI-gestützte Process-Mining-Lösungen können Geschäftsmodelle und -prozesse abbilden, analysieren und nachhaltig optimieren“, erklärt Rahild Neuburger. Mithilfe von durch KI erstellten Analysen wären Führungskräfte schneller in der Lage, relevante operative und strategische Entscheidungen zu treffen, so die Einschätzung der Expertin. Eine solche Agilität fördert die Resilienz des Unternehmens maßgeblich. Für Rahild Neuburger steht fest: „KI-Systeme sind nicht nur eine neue Technologie. Aufgrund ihrer Fähigkeit, quasi selbstständig zu lernen und Schlussfolgerungen zu ziehen, stellen sie ein neuartiges Element in der Organisations- und Arbeitswelt dar.“
- Wie KI unseren Arbeitsalltag und die Aufgabenverteilung verändert
„Den Arbeitsalltag verändert KI auf unterschiedliche Weise. Vor allem ändern sich die Tätigkeitsprofile, wenn intelligente Maschinen den Menschen unterstützen“, sagt Wilhelm Bauer, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation, der sich wie Rahild Neuburger in der Plattform Lernende Systeme engagiert. Dort ist er Co-Leiter der Arbeitsgruppe Arbeit/Qualifikation, Mensch-Maschine-Interaktion.
Wenn KI dem Menschen zuarbeitet, vergrößern sich dadurch die Handlungsmöglichkeiten jedes Einzelnen deutlich. „Wenn Unternehmen KI einführen, gewinnt die agile Projektarbeit an Bedeutung. Hier sind soziale, kommunikative und Selbstkompetenzen, wie Eigeninitiative, Kreativität oder Problemlösungsfähigkeit, gefragt“, sagt Bauer. „In dem Maße, wie eigenständiges, problemfindendes und -lösendes Verhalten an Bedeutung gewinnt, treten solche Kompetenzen in den Hintergrund, die zur gewissenhaften Erfüllung gleichförmiger Routineaufgaben erforderlich sind.“
Ein Beispiel aus der Praxis: Während ein Lagerarbeiter früher selbst mit einem Gabelstapler in der Halle hin und her gefahren ist und Artikel bewegt hat, nehmen ihm immer mehr KI-gesteuerte Fahrzeuge diese einfache Routinearbeit ab. Für den Lagerarbeiter bedeutet dies, dass er jetzt, wenn man so will, zu einer Art Abteilungsleiter aufgestiegen ist: Gleich mehrere von KI gesteuerte Gabelstapler können für ihn arbeiten, er selbst überwacht sie nur noch und greift ihnen bei Problemen unter die Arme. Die Produktivität des Lagerarbeiters steigt enorm – aber auch seine Verantwortung und die erforderliche Eigeninitiative.
Das Beispiel zeigt eine grundsätzliche Tendenz, die sich durch den vermehrten Einsatz von KI in der Arbeitswelt in vielen Fällen abzeichnet: Der Mensch wird häufig weniger selbst schaffen, stattdessen wird er die gewonnenen Freiräume nutzen, um mehr zu delegieren, zu überprüfen, Probleme zu lösen, kreativ zu werden und zu interagieren. Und das alles schneller und besser als je zuvor.
Was für manchen Handwerker, der gern selbst anpackt, ernüchternd klingen mag, ist in weiten Feldern des Berufsalltag eine enorme und meist willkommene Hilfestellung. Denn das „Schaffen“ ist nicht immer so poetisch und beflügelnd, wie es klingt. Der Lagerarbeiter dürfte sich freuen, dass er selbst nicht mehr mühsam mit dem Gabelstapler hin und her fahren muss.
Kleine KI-Kunde
- Wie KI den Arbeitsmarkt verändert
Weder Industrialisierung noch Automatisierung, noch Digitalisierung haben den Menschen aus der Arbeitswelt verdrängt. Im Gegenteil: Nie haben mehr Menschen gearbeitet als in der Gegenwart. Aber wie andere technische Innovationen wird auch die KI die Arbeitswelt verändern. Bestimmte Jobs, die viel Routine mit sich bringen, werden wegfallen, dafür neue entstehen. Etwa der des „Data Scientists“, also Spezialistinnen und Spezialisten, die die hochwertigen Datengrundlagen schaffen und pflegen, ohne die KI-Anwendungen gar nicht arbeiten können.
„Ich habe keine Sorge, dass uns durch den KI-Einsatz die Arbeit ausgehen wird“, sagt der Mensch-Maschine-Interaktionsexperte Bauer. Das Know-how der Mitarbeitenden werde auch zukünftig ein wichtiges Kapital bleiben. Bauer spricht hier vom sogenannten Branchen- oder Domänenwissen. „Wer KI etwa in der industriellen Produktion anwenden will, muss über profundes Produktionswissen verfügen“, nennt er ein Beispiel.
Auf den ersten Blick klingt es wenig sozialverträglich, wenn ein Job, den bislang drei erledigt haben, dank KI von einem einzigen Mitarbeiter erledigt wird. Aber angesichts des Fachkräftemangels in vielen Branchen ist der effiziente Umgang mit der Ressource Mensch der einzig mögliche Weg, Prozesse überhaupt noch aufrechtzuhalten.
Dass die auf uns zukommenden Veränderungen den Beschäftigten Sorgen bereiten könnten, etwa ob der KI-Einsatz zur Fremdsteuerung führt, bis hin zu Ängsten vor dem Verlust des eigenen Tätigkeitsbereichs, müsse in den Führungsetagen auf jeden Fall bedacht werden, mahnt Rahild Neuburger an. „Diese Ängste frühzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzusteuern ist eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür, dass die Einführung von KI-Systemen gelingt und ihre Potenziale ausgeschöpft werden“, sagt die Expertin. Dies erfordere zunächst Wertschätzung gegenüber den Beschäftigten und ihren Sorgen, aber auch den konstruktiven Umgang mit entstehenden Ängsten. Möglicherweise lasse sich diesen Ängsten vorbeugen, wenn es gelingt, die Vorteile und Entlastungseffekte eines KI-Systems als Werkzeug in den Vordergrund zu stellen. „Denn je deutlicher der Mehrwert für jeden Einzelnen wird und je besser die Angst vor dem Verlust des eigenen Jobs reduziert wird, desto höher dürften Offenheit und Akzeptanz unter den Beschäftigten sein“, sagt Neuburger.
- Wie werden wir fit für KI?
Zentral für eine gelungene Zusammenarbeit mit KI-Systemen ist die Qualifizierung der Beschäftigten. Aber wie gelingt diese? „Wichtig ist, dass eine humane Arbeitsgestaltung von Beginn an mitgedacht wird“, betont Nadine Müller, Bereichsleiterin Innovation bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und ebenfalls Mitglied der Plattform Lernende Systeme. Müller hält es für enorm wichtig, dass Beschäftigte von Anfang an Einfluss haben auf den Einsatz von KI – denn dann stelle sich gar nicht erst das Gefühl eines Ausgeliefertseins ein. Im Idealfall also sollte man nicht nur verkünden, dass an bestimmten Stellen und Prozessen im Unternehmen eine KI eingeführt wird, sondern man sollte den Mitarbeitern die Möglichkeit geben, auf diese Einführung Einfluss zu nehmen und sie zu optimieren. Auf diese Weise fühlen sich die Mitarbeiter weniger als Opfer einer externen Maßnahme, sondern als Teil einer Erneuerung, die sie maßgeblich mitbestimmen.
Grundsätzlich, so hat es Arbeitswissenschaftler Bauer beobachtet, stehen Mitarbeitende dem Thema KI positiv gegenüber. Er sagt: „Auffällig ist die hohe intrinsische Motivation vieler KI-Nutzer, wenn es um den Erwerb neuer Kompetenzen geht. Ausschlaggebend hierfür mögen auch exzellente Karrierechancen sein. Das erleichtert es den Menschen, die Lernanforderungen erfolgreich zu bewältigen.“
Eine Unternehmensbefragung hat laut Bauer ergeben, dass aktuelle Qualifizierungskonzepte die Integration von arbeitsplatznahem Lernen und Handeln betonen. Dies solle die zielgerichtete Umsetzung neuer Erfahrungen in der praktischen Anwendung fördern. „KI-Qualifizierung findet bevorzugt als aufgabenspezifisches ‚On-the-Job-Training‘ oder als Inhouse-Seminar statt. Weltweit verfügbare, umfangreiche Online-Bildungsangebote unterstützen ein solches Vorhaben“, sagt Bauer.
- Was KI für die Work-Life-Balance tun kann
Laut einer Studie der Unternehmensberatung Accenture könnte die Anwendung von KI-Technologien die Erträge von Unternehmen bis 2035 um durchschnittlich 38 Prozent steigern. Auch diese Zahl deutet darauf hin, dass KI die Produktivität pro Mitarbeitendem deutlich erhöhen wird. Auf der einen Seite lehrt die Erfahrung, dass eine Steigerung der Produktivität langfristig nicht weniger Arbeit bedeutet. Doch weil sie so umfassend sein dürfte, könnte es dieses Mal tatsächlich so sein, dass die Arbeitszeit der Menschen insgesamt verkürzt wird. Dies würde auch dem aktuellen Trend entgegenkommen, dass vor allem junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – insbesondere von der Generation Z, also den um die Jahrtausendwende Geborenen – mehr Wert auf eine gute Work-Life-Balance legen. Dies könnte eine der umfassendsten Umwälzungen sein, die KI am Arbeitsplatz bewirkt: Sie schenkt den Menschen mehr Freizeit.