Bewegung im Hinterland
Stand der Dinge
Die Welt wird zwar immer mehr Stadt, trotzdem leben 44 Prozent aller Menschen noch in ländlichen Regionen. In den am wenigsten entwickelten Ländern sind es deutlich mehr, doch selbst in der Europäischen Union wohnt noch jeder Vierte auf dem Land. Dort, in den dünn besiedelten Gebieten, ist die Versorgung mit öffentlichen Verkehrsmitteln eine technische, aber vor allem auch eine finanzielle Herausforderung. Taktung und Bedienzeiten sind eingeschränkt, die Gebietsabdeckung ist unzureichend. Als wichtigstes Transportmittel herrscht deshalb insbesondere in Industrienationen uneingeschränkt der private Pkw. Auf dem Land verfügen viele Haushalt über zwei oder gar drei Autos, der öffentliche Verkehr spielt fast keine Rolle. Die Dominanz des Pkw beeinträchtigt die Umwelt – und sie benachteiligt ganze Bevölkerungsgruppen: Kinder, Ältere, Kranke, Menschen mit Behinderung und solche ohne Führerschein oder ohne die nötige Kaufkraft.
In den Ländern des globalen Südens ist die Lage ungleich schwieriger: Dort lebt nach Angaben der Weltbank rund eine Milliarde Menschen in Dörfern, die mehr als zwei Kilometer von der nächsten ganzjährig befahrbaren Straße entfernt sind; besonders prekär ist die Lage in einigen Ländern Afrikas. Dort kommen die Menschen nur so weit, wie ihre Füße sie tragen – und das bedeutet: Sie sind wirtschaftlich und sozial vom Rest der Welt abgeschnitten, besonders während der Regenzeit. Sind Märkte, Schulen und Krankenstationen nicht erreichbar, stagniert die wirtschaftliche Entwicklung, frisst sich die Armut fest.
Wege
Auch im globalen Süden gibt es zwar recht gut ausgebaute Überlandstraßen. Aber auf ihnen kommt man nicht in die Dörfer und zu den Feldern. Es mangelt an Zubringerstraßen, oft auch an Brücken. Vielen Menschen stehen nur Trampelpfade zur Verfügung, auf denen das Vorankommen beschwerlich und zeitraubend ist; allein Wasser oder Feuerholz zu besorgen ist eine enorme Herausforderung. Von Zugang zu Bildung und Medizin ganz zu schweigen.
„Der Wegebau ist zentral”, sagt Susanne Neubert, Co-Leiterin des Seminars für Ländliche Entwicklung der Berliner Humboldt Universität. Und tatsächlich: Wo Wege und Straßen Menschen miteinander verbinden, geht es messbar bergauf. In äthiopischen Dörfern, die ans Wegenetz angeschlossen wurden, stieg das Konsumniveau um 16 Prozent, die Armut sank im Gegenzug leicht. Ähnlich in Bangladesch: Weniger Armut, mehr Einkommen – obendrein besuchten mehr Kinder die Schule. In Indonesien ermöglichte der Wegebau vielen Menschen, Gesundheitsdienste in Anspruch zu nehmen, statt den traditionellen Heiler zu konsultieren. In Nepal, dem Bergland im Himalaya, wurden mit Unterstützung einer schweizerischen Entwicklungsorganisation mehr als 8.000 Hängebrücken gebaut, die Wege deutlich verkürzten. Das Ergebnis: Mehr Kinder gehen zur Schule und in Gesundheitszentren steigen die Konsultationen deutlich an. An jeder fünften Brücke wurden Läden, Imbissbuden oder Reparaturwerkstätten eröffnet. Auch hier: Wege führen zu Wachstum.
Räder
Fahrräder machen Dörfer mobil – wenn sie billig, robust und einfach zu reparieren sind. „Buffalo“ ist ein solches Fahrrad. „Weil es Leben verändert“, gehöre es zu den besten Fahrrädern der Welt, schrieb ein Nachrichtenmagazin. „Buffalo“ ist speziell für holprige, sandige oder steinige Wege konstruiert, der Gepäckträger trägt 100 Kilogramm. Mehr als 700.000 solch robuster Fahrräder hat eine Hilfsorganisation namens World Bicycle Relief bisher unter die Leute gebracht. 147 Euro finanzieren ein „Buffalo“, das viel in Bewegung bringt, zum Beispiel in Sambia: Nachdem sie per Fahrrad unterwegs sein konnten, brachen dort 19 Prozent weniger Mädchen die Schule ab. Außerdem fehlten sie seltener, hatten bessere Mathematik-Noten und wurden auf dem Schulweg deutlich seltener belästigt. In Kenia konnten Krankenpfleger fast doppelt so viele Patienten besuchen, nachdem sie mit einem „Buffalo“ unterwegs waren. Und Bauern ermöglichten die Fahrräder, fast ein Viertel mehr Milch auszuliefern und ihr Einkommen entsprechend zu steigern. Nicht auf zwei Räder und Muskelkraft, sondern auf drei und elektrischen Antrieb setzt das start-up Mobility for Africa, ein gewinnorientiertes Sozialunternehmen aus Simbabwe. Hamba („Let’s go“) heißt das dreirädrige, mit Wechselbatterien ausgestattete Offroad-Gefährt, dessen Ladefläche bis zu 400 Kilogramm trägt. Per Mietkauf nutzen es vor allem meist von Frauen gemanagte Kleinbauern-Kooperativen. Die soweit möglich mit Strom aus Wasser- und Sonnenkraft betriebenen Hambas sind zwar deutlich teurer als ein Fahrrad, schleppen dafür aber auch größere Lasten und schaffen weitere Wege in kürzerer Zeit. Vor Kurzem investierte ein mit öffentlichem Geld ausgestatteter britischer Infrastrukturfonds zwei Millionen Dollar in das Start up – für 400 weitere Hambas, 600 Wechselbatterien und acht neue Ladestationen.
Drohnen
Nicht nur der Transport von Menschen gerät auf dem Land schnell ins Stocken. Auch der Warentransport wird im Hinterland holperiger. Ob deutsche Hallig, italienisches Bergdorf oder Steppenoase in der argentinischen Pampa – dort wird jede Warenzustellung zum Zubrotgeschäft. Um Mensch und Ware trotzdem zuverlässig zueinander kommen zu lassen, wäre der Lufttransport per Drohne eine Möglichkeit. Im südostafrikanischen Malawi, dessen Feldwegenetz durch Überschwemmungen regelmäßig unpassierbar ist, fliegen die unbemannten Multicopter seit einigen Jahren mit wertvollen Gütern an Bord: Antibiotika, Schmerzmittel, Infusionen, Laborproben – Dinge, die auf dem Landweg nicht schnell genug ihren Empfänger finden würden. Gemeinsam mit UNICEF und dem Luftfahrtunternehmen Wingcopter setzt die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) das Projekt um. Die mit medizinischen Gütern beladenen Drohnen haben bisher rund 2.100 Lieferflüge absolviert und mehr als eine Viertelmillion Menschen in der Region Kasungu erreicht. Getrieben durch die hohen Kosten in der Landbelieferung, beschäftigen sich Versender rund um den Globus mit der Möglichkeit, Drohnen in ihre Lieferketten einzubinden. Doch die Hürden sind hoch. „Es ist eigentlich gar nicht so schwer, ein Paket per Drohne auszuliefern“, erklärte der ehemalige Boeing-Manager David Carbon auf einer Amazon-Veranstaltung im November 2022. „Es ist ein ganz anderes Problemfeld, ein autonomes, sicherheitskritisches System zu entwickeln, zu bauen, zu zertifizieren und zu betreiben, das über dicht besiedelten Gebieten im nationalen Luftraum operieren kann.“ Gerade in dünn besiedelten Flächenländern wie beispielsweise Australien, Kanada, den USA, Chile oder Norwegen, in denen viele Siedlungen heute hauptsächlich durch Flüge mit Propellermaschinen mit dem Rest der Welt verbunden sind, gibt es Überlegungen, elektrisch angetriebene Lufttaxis als fliegenden ÖPNV einzusetzen. So können entlegene Regionen, die trotz ihrer Abgeschiedenheit wirtschaftlich, kulturell oder aus strategischer Sicht von Bedeutung sind, mit geringerem Aufwand als zurzeit am Leben gehalten werden. Die neuseeländische Regierung hat untersuchen lassen, ob sich mit autonomen Drohnen-Taxis eines Tages abgelegene Siedlungen kosteneffizient mit dem nächsten Flugplatz verbinden ließen. Ergebnis: Könnte sich lohnen, eines Tages.
Rufbus
DeLijn, ein staatliches Transportunternehmen in Belgien, betreibt entlang der Nordseeküste nicht nur die „Kusttram“, die mit 67 Kilometern weltweit wohl längste Straßenbahnlinie, sondern mit seinem „Flexbus“ auch eines der größten Rufbus-Systeme. Bei dem flexiblen Mobilitätsangebot „ridepooling on-demand“ handelt es sich um bedarfsgesteuerte Sammelfahrten, bei denen individuelle Fahrten („rides“) gebündelt („gepoolt“) und mit einem einzigen Fahrzeug bedient werden. Der „Flexbus“ fährt eine Reihe von festen Haltestellen in den dünner besiedelten Gebieten von Flandern an, allerdings ohne Fahrplan und feste Route. Gebucht wird per App oder Telefon, Algorithmen berechnen, über welche Routen möglichst viele Menschen mit möglichst wenigen Fahrzeugen befördert werden können – und zwar am besten so, dass auch Anschlussverbindungen von Bahn oder Linienbussen erreicht werden. Mehr als 17.000 Kilometer legen die Busse werktäglich zurück, mit mehr als 3.000 Passagieren. Längst werden solche Transportdienste on-demand weltweit vielerorts angeboten. In der ostenglischen Grafschaft Suffolk ebenso wie im polnischen Bielsko-Biala und in dem portugiesischen Gemeindeverbund Médio Tejo. „Damit wir Pendlern und Reisenden auch in Zukunft eine starke Alternative zum Autofahren anbieten können, brauchen wir flexible und digital vernetzte Angebote im Nahverkehr“, sagt auch Ina Brandes, Ministerin für Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen. Ihr Ministerium will ebenfalls verstärkt Ridepooling-Angebote schaffen, um mehr Menschen an den ÖPNV anzuschließen. Zeitliche und räumliche Schwerpunkte lägen dabei laut einer Studie auf dem suburbanen beziehungsweise ländlichen Raum und den Nachtstunden in den Städten. Auch zwischen den Städten und Kreisen identifiziert die Studie einen großen Mobilitätsbedarf. Egal ob England, Portugal, Kanada oder Deutschland – in den wenigsten Fällen decken die Einnahmen solcher Angebote die Kosten, insofern ist eine öffentliche Unterstützung beziehungsweise Finanzierung des Angebotes erforderlich. Diese kann aber unter Umständen sogar niedriger ausfallen als bei einem starren ÖPNV-Angebot mit wenig ausgelasteten Linienbussen.
Taxi
Die Kommunalpolitiker von Jinseki-Kogen, einem dünn besiedelten Flächenstädtchen mit 10.000 Einwohnern in der japanischen Präfektur Hiroshima, schufen vor einiger Zeit den Dorfbus ab. Bei Bedarf fahren an seiner Stelle jetzt Taxis; Leute ohne Führerschein, Ältere und Menschen mit Behinderung bekommen für die Taxinutzung einen Zuschuss. Zwar wuchs der Verkehrsetat von Jinseki-Kogen dadurch etwas an, dennoch gilt die Umstellung als Erfolg. Nicht nur, weil mit den Taxis viel mehr Fahrten absolviert werden als früher mit dem Bus, sondern auch, weil fortan mehr ältere Menschen auf ihren Führerschein verzichteten und der Straßenverkehr dadurch sicherer wurde. Auf ähnliche Weise versucht die Regierung Südaustraliens, besonderen Gruppen Mobilität zu ermöglichen: Rollstuhlfahrer erhalten einen Zuschuss für Taxifahrten, ebenso Menschen mit eingeschränkter Fähigkeit, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Derweil werden im kanadischen Innisfil/Ontario pro Person monatlich 30 Fahrten mit dem Uber-Fahrdienst subventioniert. Die Einbindung des Taxigewerbes in den öffentlichen Nahverkehr hat einen Vorteil: Für die zusätzlich benötigte Verkehrsleistung wird bereits vorhandenes Personal und der bereits vorhandene Taxi-Fuhrpark eingesetzt, das senkt die Kosten.
Carpooling
In Frankreich sitzt in den meisten Autos nur eine Person: der Fahrer. Jeden Tag fahren deshalb 200 Millionen Pkw-Sitze unbesetzt herum, viele davon in ländlichen Regionen – während gut die Hälfte der dort lebenden Bevölkerung mehr als 10 Gehminuten von der nächsten Bushaltestelle entfernt wohnt. Ecov, ein französisches Start-up, entwickelte eine innovative Lösung für das Problem: Carpooling in Echtzeit. Mitfahrgelegenheit gesucht? Dank digitaler Unterstützung geht das sehr spontan. Das „Covoiturage“ genannte System funktioniert fast wie ein Bus: mit festen Haltepunkten und Fahrtstrecken, aber ohne Fahrplan und lange Wartezeiten. Fahrtwünsche und -ziele werden per App oder SMS angemeldet, an mit Rufsäulen ausgestatteten Haltepunkten auch per Knopfdruck; teilnehmende Autofahrer werden umgehend informiert, ebenfalls per App oder durch beleuchtete Schilder an den Haltepunkten. Aus einem privaten Pkw wird auf diese Weise ein teil-öffentliches Fahrzeug. 60 Linien in verschiedenen Regionen Frankreichs hat Ecov gemeinsam mit den für den Nahverkehr zuständigen Behörden inzwischen entwickelt. Die bezahlen den Fahrern für jeden mitgenommenen Passagier einen Euro, mancherorts auch zwei, während die Passagiere meist nichts zahlen müssen. Wartezeiten von oft nur wenigen Minuten machen das System attraktiv. Bei einer Befragung von Teilnehmern eines der Ecov-Netzwerke gaben 80 Prozent an, zuvor als Solo-Fahrer unterwegs gewesen zu sein. Mehr als jeder Fünfte hat nach eigenen Angaben ein Auto verkauft, berichtet Thomas Matagne, Präsident von Ecov. Für gesellschaftlichen Mehrwert ist laut Ecov ohnehin gesorgt: weniger Verkehr, weniger Stau, weniger CO2-Emissionen – aber mehr Kaufkraft. 1.500 Euro spart ein durchschnittlicher Nutzer jährlich.
Eisenbahn
In Deutschland ist das Bahnnetz seit 1950 um rund 15.000 Kilometer geschrumpft. Doch seit einigen Jahren findet eine Trendumkehr statt, werden stillgelegte Strecken reaktiviert, immerhin 919 Kilometer seit 1994, meist im ländlichen Raum. Der Trend zur Wiedereröffnung stillgelegter Eisenbahnlinien findet auch anderswo statt. Um abgehängten Dörfern „wieder Leben einzuhauchen“ will zum Beispiel die britische Regierung Strecken wiedereröffnen. Und selbst in den USA, wo bis Mitte der 1990er-Jahre rund 725 Dörfer und Städtchen ihren Gleisanschluss verloren hatten, haben die ersten inzwischen wieder Anschluss gefunden. Welche Effekte Schienenreaktivierungen haben, hat das deutsche Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung untersuchen lassen. Zwar stellen sich nicht alle erhofften Effekte ein, so bilanziert eine Studie, viele aber schon: Ländliche Regionen werden für Bürger und Unternehmen attraktiver. Der Wohnungsmarkt in Ballungsgebieten wird entlastet. Transport kommt mit weniger Fläche aus, die beispielsweise für Parks genutzt werden kann. Freizeitregionen werden umweltverträglich erschlossen, vor allem für den Fahrradtourismus. Schließlich geschehen weniger Unfälle, und Pkw-Besitzer sparen Betriebskosten. Auch von der neuen Ost-West-Bahnverbindung, die im Großraum London Vororte mit der Metropole verbindet, erhofft sich die Verkehrsbehörde Transport for London nicht nur eine Belebung des Umlands (u. a. sollen dort im Windschatten des Projekts 90.000 Wohnungen entstehen) sondern auch milliardenschwere Impulse für die Wirtschaft im gesamten Königreich. Mittlerweile ist eine Nord-Süd-Verbindung in Planung. Auch diese soll zu einem Job-Motor werden.
Robomobile
Fahrerlose Minibusse werden bereits vielerorts erprobt. In Australien, in Deutschland, in den Niederlanden, vor allem in Japan. In einer Studie der Unternehmensberatung Roland Berger heißt es, Robomobile könnten vor allem ländlichen Regionen mit meist ungenügendem Angebot öffentlicher Verkehrsmittel wieder Anschluss verschaffen: Besonders den dort lebenden älteren Menschen, jungen Leuten ohne Führerschein und Personen mit Behinderung.
Mehr Lebensqualität dank autonomer Shuttles, so die Verheißung. Die Hoffnung beruht vor allem auf einem Umstand: Im herkömmlichen Busbetrieb in Industrieländern schlagen die Personalkosten mit einem Anteil von rund 45 Prozent zu Buche, ohne Fahrer wird das Gros dieser Kosten eingespart. Eine Untersuchung der Technischen Universität Hamburg ergab, dass störungsfrei autonom fahrende Shuttles tatsächlich fast ein Drittel günstiger wären als klassische Diesel-Minibusse. Experten erwarten, dass solche Robomobile womöglich schon ab 2025, spätestens aber bis 2040 marktreif sein könnten.