Bballi Bballi! (schnell, schnell!)
Als ich 2015 übergangsweise nach Korea zog, um meine Arbeit als sporttechnischer Leiter der Eishockeyspiele der Olympischen und Paralympischen Winterspiele in Pyeongchang aufzunehmen, erlebte ich einmal mehr am eigenen Leibe, was es bedeutet, in einer vom „Bballi Bballi“ (übersetzt: „schnell, schnell“) geprägten Kultur zu leben. Ein Beispiel: Für meinen Internetanschluss in Deutschland wartete ich seinerzeit fast zwei Monate und musste auf den Techniker irgendwann zwischen 8 und 16 Uhr zu Hause warten. Im Serviceland Korea wäre das ein Ding der Unmöglichkeit. Von der Bestellung bis zum Anschluss ans Internet in Korea dauerte es rekordverdächtige zwei Stunden. Der Techniker kam pünktlich um 13 Uhr zum vereinbarten Termin und erledigte den Job in nur wenigen Minuten. Typisch Korea – das Leben ist hektisch und schnell, vor allem in der 25 Millionen Einwohner zählenden Metropolregion der Hauptstadt Seoul, in der die Hälfte der Landesbevölkerung zu Hause ist.
Gerade in den Großstädten kommt es oft vor, dass man auf belebten Straßen angerempelt wird. Doch dies ist keineswegs als Unhöflichkeit zu betrachten. Es gehört einfach dazu. Obwohl Koreaner im Allgemeinen sehr höfliche, zurückhaltende Menschen sind, darf man nach einem solchen unfreiwilligen Körperkontakt keine Entschuldigung erwarten. Ungeduld schlägt gute Erziehung. Koreaner, insbesondere jene in Seoul, gelten nicht umsonst als die Italiener Asiens – mitsamt des manchmal ungestümen Temperaments. Kein Wunder also, dass selbst im Parlament schon die Fäuste geflogen sind.
Früher Entwicklungsland, heute Weltspitze
Der sogenannte Tigerstaat Korea verfügt über das schnellste Internet der Welt. Die durchschnittliche Internetgeschwindigkeit liegt mit rund 29 Mbit/Sekunde in etwa doppelt so hoch wie in Deutschland. Während der Olympischen Spiele 2018 wurde das weltweit erste 5G-Funknetz getestet, das 2019 flächendeckend eingeführt werden soll. Es ist 100-mal schneller als bisherige LTE-Netze. Egal ob im tiefsten U-Bahn-Tunnel oder auf dem höchsten Berg: In Korea herrscht mit 96 Prozent eine nahezu totale Netzabdeckung. Auch WLAN-Hotspots sind allerorten anzapfbar. Ein Zustand, von dem man in Deutschland nur träumen kann. Doch das war nicht immer so. In den 1960er-Jahren war Korea noch ein Entwicklungsland. Die Wunden des Bürgerkriegs mit dem kommunistischen Norden (1950–53) verheilten allmählich. Damals kam ein einziger Telefonanschluss auf circa 300 Einwohner. Nur wenige Jahrzehnte später steht Korea im Bereich Telefonie, Smartphone- und Internetnutzung an der Weltspitze. Angesichts der wahnsinnigen Technikbegeisterung im Land ist es kaum verwunderlich, dass hier mit Songdo auch die erste Smart City der Welt entstand und Google seinen ersten „Campus“, ein Habitat für Start-ups, auf dem asiatischen Kontinent in Seoul platziert hat. Doch wie fast immer im Leben gibt es auch eine Kehrseite: Mit dem Siegeszug von Highspeed-Internet und Smartphones wurde eine um sich greifende Handysucht zum echten gesellschaftlichen Problem.
Von 0 auf 100 bei Stahl, Autos, Elektronik
Als ich 2015 in Korea meine Arbeit aufnahm, wurde gerade das Fundament der Eisstadien gelegt. Internationale Fachleute hegten Zweifel, dass die Stadien rechtzeitig vor dem Beginn der Olympischen Spiele fertig gebaut sein würden. Ich beruhigte die Experten und erklärte ihnen: „Wenn es ein Land schafft, dann ist es Korea.“ Und genauso kam es auch. Sogar noch besser: Schon ein Jahr vor den Spielen waren alle Stadien fertig gebaut.
Auch die Luxushotels in Gangneung für hochrangige Funktionäre schossen geradezu sprichwörtlich aus dem Erdboden. Bballi Bballi auch auf der Baustelle. Der „Lotte World Tower“ im Seouler Stadtteil Jamsil-dong wuchs in nur fünf Jahren auf beachtliche 555 Meter an. Damit ist der Wolkenkratzer das fünfthöchste Gebäude der Welt. Die benachbarte „Lotte World“ ist gar der größte Freizeitpark der Welt – nur um noch einen Superlativ zu erwähnen. Beides befindet sich in einem Gebiet, in dem noch 1970 lediglich 300 Haushalte vorzufinden waren.
Trotz Baubooms: Wohnraum ist knapp in Seoul, die Wohnkosten zählen zu den höchsten der Welt. Nicht wenige müssen einen Zusatzjob annehmen, um die horrenden Mieten bezahlen zu können.
Das Wunder vom Han-Fluss
Wie konnte der rasante Aufstieg von einem Entwicklungsland zur elftgrößten Wirtschaftsmacht der Welt in so kurzer Zeit gelingen? Das „Land der Morgenstille“ war lange Spielball der Mächte Japan, China, USA und Russland. In den 60er-Jahren lag das jährliche Pro-Kopf-Einkommen der Koreaner bei umgerechnet 87 Dollar. Heute sind es 27.500 Dollar. Wenn man die Koreaner fragt, wer für das „Wunder vom Han-Fluss“ verantwortlich ist, hört man meist: Park Chung-hee.
Wenn man im Sommer einen Tag faulenzt, hungert man im Winter zehn Tage lang
Koreanisches Sprichwort
Der ehemalige koreanische Präsident, der sich 1961 an die Macht putschte, startete seinen ersten Fünfjahresplan 1962. Dieser konzentrierte sich vor allem auf den Ausbau der Infrastruktur, auf die landwirtschaftliche Produktion sowie die Förderung der Leichtindustrie und der technologischen Weiterentwicklung. Weitere Schwerpunkte galten der Bildung und Energieversorgung. Es folgten die Fünfjahrespläne zwei (1967–71, Förderschwerpunkt Schwerindustrie), drei (1972–76, Förderschwerpunkt Chemie), vier (1977–81, weiterhin Förderung von Chemie- und Schwerindustrie, aber wirtschaftlicher Rückschlag durch politsche Tumulte und die Ölkrise, Ende Militärdiktatur ), fünf (1982–86, Wandel weg von der Schwer- und Chemieindustrie hin zu technologieintensiven Branchen wie Elektronik und Präzisionsmaschinen) und sechs (1987–91, Förderung mittelständischer Unternehmer und strategischer Industrien wie die Automobil-, Maschinenbau- und Elektronikbranche). Bei ihrer beschleunigten Entwicklung scheuten sich die Koreaner nicht, Erfolgsrezepte anderer Länder zu adaptieren – um sie dann besser zu machen.
Abgehängt vom Tempo der Modernisierung
Europa brauchte 300 Jahre, um das System des modernen Kapitalismus auf sichere Füße zu stellen, Südkorea erledigte diesen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel unter zwei Militärdiktaturen zwischen 1960 und 1980, bilanzierte Hwang Sok-yong, einer der bekanntesten Schriftsteller Südkoreas 2014 in einem Dokumentarfilm des Franzosen Jacques Debs. „Der Prozess der Modernisierung hat Korea in kürzester Zeit überrollt“, so Hwang. Dabei ist in den Augen des streitbaren Literaten neben der Fähigkeit, Entscheidungen gründlich abzuwägen und zu hinterfragen, auch die soziale Gerechtigkeit auf der Strecke geblieben. Und tatsächlich: Laut einer Studie der OECD gibt Korea trotz deutlicher Steigerungen in den vergangenen Jahren noch immer weniger als 15 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Sozialleistungen aus. Zum Vergleich: Als Spitzenreiter gelten hier Frankreich und Finnland mit über 30 Prozent. Die Schere zwischen Arm und Reich geht wie in vielen Industrienationen auch in Korea immer weiter auseinander.
Ein weiteres Problem: Bei der Altersarmut nimmt Korea unter den führenden Industrienationen einen unerfreulichen Spitzenplatz ein. Was auch daran liegt, dass im rasanten gesellschaftlichen Wandel das Prinzip der sich gegenseitig unterstützenden Großfamilie zum Auslaufmodell geworden ist. Viele Pensionäre fühlen sich nutzlos, haben Existenzängste und scheiden lieber freiwillig aus dem Leben, als ein unwürdiges zu führen. Ein Gegensteuern ist dringend nötig, denn es kommen immer weniger Junge Menschen nach, die für ihre Vorfahren aufkommen. Koreas Geburtenrate zählt zu den niedrigsten der Welt. Jede zweite Koreanerin will gar keine Kinder haben – auch aus Angst, in die Rolle der Hausfrau und Mutter gedrängt zu werden. In Sachen Emanzipation hat die männerdominierte Gesellschaft Koreas ebenfalls Nachholbedarf.
Der hungrige Geist der Koreaner
Der von Park Chung-hee angeschobene und geplante wirtschaftliche und technologische Aufschwung des Landes wurde durch einen weiteren Faktor immens beschleunigt: den „Hungry Spirit“ der Koreaner – wie mein Onkel, ein erfolgreicher Bauingenieur aus Seoul, zu sagen pflegt. Dieser unbändige und unbeugsame Wille, es „der Welt zu zeigen“, hat einen maßgeblichen Anteil daran, dass sich Korea innerhalb von fünf Jahrzehnten vom Entwicklungsland zu einer der führenden Industrienationen gemausert hat. Dem strebsamen Koreaner widerstrebe nichts mehr, als sich gehen zu lassen, weiß auch Schriftsteller Hwang Sok-yong zu berichten. 60-Stunden-Arbeitswochen sind eher die Regel als die Ausnahme. Peter Schreyer, der deutsche Designer, der seit 2006 für Hyundai und Kia schicke Blechkleider entwirft, zeigte sich in einer TV-Reportage ebenfalls beeindruckt vom Eifer der Koreaner, die nicht nur von persönlichen Ehrgeiz getrieben seien, sondern auch vom Stolz auf ihr Land.
Der „Hungry Spirit“ zeigt sich bei den Koreanern auch bei der Bildung. Der Konkurrenzkampf, in eine „SKY“-Universität hineinzukommen, ist enorm. SKY steht für die drei koreanischen Top-Universitäten Seoul National, Korea und Yonsei. Bis zu 16 Stunden am Tag büffeln Schüler, um mit einem guten Abschluss Zugang zu einer Top-Uni zu erlangen. Heimst der Nachwuchsakademiker dort ein Cum-laude-Diplom ein, ist der Zugang zur begehrten Gesellschaftselite quasi garantiert. Die Eltern sind gewillt, einen Großteil ihres Einkommens für den schulischen Erfolg auszugeben. Die Bildungswut, gepaart mit der Angst des Versagens, hat aber auch eine Kehrseite: Korea gehört zu den Ländern mit der höchsten Suizidrate unter Jugendlichen.
Davon unbenommen zieht es auch immer mehr ausländische Studenten nach Südkorea. In der Hitliste der Website topuniversities.com liegt Seoul schon in den Top 10 der beliebtesten Studentenstädte. Die Zahl der Universitäten erlebte wie das ganze Land ein enormes Wachstum. Gab es 1965 noch 70 Hochschulen (14 staatliche, 56 private), waren es 50 Jahre später mehr als dreimal so viele (46 staatliche, 179 private). Der Bildungsturbo führte zu einem landesweiten Akademisierungsgrad von 70 Prozent. Die Folge: Viele Abgänger finden in der Heimat keinen adäquaten Arbeitsplatz und schauen sich im Ausland um. Gut möglich also, dass es ein junges Paar meinen Eltern nachmacht und sein Glück in Deutschland sucht ...