Bauklötze der Zukunft

Von Björn Carstens
Materialien formen nicht nur die Struktur unserer Umgebung, sie sind auch Grundbausteine für zukunftsweisende Entwicklungen. Wissen und Weitblick sind hierbei explizit gefragt. „tomorrow“ hat zusammen mit Experten auf die wichtigsten Werkstoffe von morgen geschaut.
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Wundermaterial Graphen?

Bislang ist Silizium das Königsmaterial, wenn es um Hardware für Smartphones oder ­Prozessoren geht. Aber wie lange noch? Denn es gibt eine ernstzunehmende Alternative. Graphen heißt sie. Sie ist wesentlich steifer als Stahl, dabei aber leichter als Silizium. Elektrizität und Wärme kann Graphen ähnlich gut wie Silizium leiten. Aber woher kommt Graphen überhaupt?

Graphit, ein modifizierter Kohlenstoff, aus dem auch Bleistiftminen hergestellt werden, ist der Hauptbestandteil von Graphen. Man stellt sich dieses Zukunftsmaterial am besten als eine ex­trem dünne Schicht aus Graphitatomen vor, die in einem sechseckigen Muster angeordnet sind. Unter dem Mikroskop betrachtet ähnelt so eine Graphenschicht einer Bienenwabe.

Prof. Dr.-Ing. Tim Hosenfeldt, Leiter Zentrale Technologien bei der Motion Technology Company ­Schaeffler, sieht in Graphen ein hohes ­Potenzial für ganz unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten. „Die elektronischen, optischen, thermischen und mechanischen Eigenschaften von Graphen haben die Tür zu vielen praktischen und ­kommerziellen Anwendungen geöffnet“, sagt Hosenfeldt, „als transparenter und flexibler Leiter kann Graphen für die Herstellung von Solarzellen, Energiespeichern und -wandlern, aufrollbaren Bildschirmen und Touchscreens sowie LED-Leuchten verwendet werden. Außerdem erhöht Graphen deutlich die Frequenz von elektromagnetischen Signalen. Schnellere Transistoren sind so möglich. Auch Sensoren aus Graphen stoßen auf großes Interesse. Denn dank ihrer außergewöhnlichen Empfindlichkeit können sie einzelne Moleküle gefährlicher Stoffe entdecken. In der Luft verteiltes Graphenoxid kann beispielsweise radioaktive Schadstoffe beseitigen.“

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dick ist eine Lage Kohlenstoffatome, aus denen eine Graphenschicht besteht.

Fakt ist: Die Einsatzfelder sind ebenso umfangreich wie komplex. Besonders großes Zukunfts­potenzial hat Graphen laut Hosenfeldt in Batterie­speichern, wo sich mit dem Material extrem kurze Ladezeiten realisieren lassen (bis zu 60-mal schneller als bei gängigen Lithium-Ionen-Zellen). Auch als Supraleiter, als hochfeste Strukturwerkstoffe oder in der Energieerzeugung und -speicherung sieht Hosenfeldt gute Entwicklungsmöglichkeiten.

Graphen könnte darüber hinaus auch die Wasserstoffproduktion günstiger machen, da es besonders gut Protonen transportieren kann und so ­teure Membranen ersetzen könnte.

Einen Wermutstropfen gibt es allerdings: Graphen herzustellen war bislang enorm aufwendig und teuer. Aber auch da scheint sich eine Lösung abzuzeichnen. Mit ihrer 3DG-Produktionstechnologie (dreidimensionales Graphen) will der chinesische Autobauer GAC die Herstellungskosten nach eigenen Angaben von ursprünglich mehreren Hundert Euro pro Gramm auf ein Zehntel des Preises reduzieren.

Bauklötze der Zukunft
Prof. Dr.-Ing. Tim Hosenfeldt, Leiter Zentrale Technologien bei der Motion Technology Company Schaeffler

„Möglicherweise könnten mithilfe von Graphen und verwandten Materialien leichtere, kompaktere und leistungsstärkere Bauteile für Fahrzeuge sowie für Energiespeicher und -wandler hergestellt werden. Die Herausforderung liegt in der wirtschaftlichen Herstellung, so wie uns das bei den dreidimensionalen Kohlenstoffmodifikationen erfolgreich gelungen ist.“

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Wie sich Risse allein schließen

Selbstheilende Materialien stammten einst aus der Science-Fiction-Welt, heute sind sie real. Durch intelligente Prozesse können sie sich selbst reparieren – egal, was für Schäden: Schnitte, Risse oder Brüche. Diese Materialien enthalten lebende biologische Zellen, die ihnen Eigenschaften verleihen, wie sie eigentlich nur in der Natur vorkommen. Das Vorbild ist die menschliche Haut. Solche lebenden Materialien bestehen im Grunde genommen aus zwei Komponenten: aus Organismen wie Hefen oder Bakterien, die eine bestimmte Funktion erfüllen sollen und entsprechend programmiert sind, und aus einem Trägermaterial, in das die lebenden Organismen eingeschlossen ­werden.

Diese Organismen verfügen über besondere Stoffwechseleigenschaften und können verschiedenartige Stoffe produzieren, von anorganischen Salzen über Metalloxide und Biopolymere bis hin zu hochwirksamen medizinischen Wirkstoffen. Diese Fähigkeit kann genutzt werden, um technische und medizinische Materialien mit neuartigen Funktionen herzustellen, die nicht-lebende Materialien nicht besitzen. Dazu gehören eben Selbstregeneration des Materials nach Beschädigung, eine flexible Anpassung an Umweltreize oder ex­treme Langlebigkeit.

Die Baustoffindustrie forscht seit Langem zu selbstreparierenden Baustoffen. Mit Erfolg. Es gibt Beton, der sich selbst heilt. Möglich machen das Bakterien, die in Form von Sporen in den Beton eingegossen werden. Sporen können Jahrzehnte und Jahrhunderte überleben. Entsteht in dem Beton ein Riss, erweckt dort eindringendes Wasser die Sporen zum Leben. Sie beginnen, Calciumcarbonat zu erzeugen – Kalk. Dieser Kalk verschließt den Riss von innen heraus. Indem die Bakterien die entstandenen Risse „heilen“, hält der Beton länger, ein Abriss ist nicht nötig. Das spart Ressourcen, Energie und Treibhausgase.

6,75 Mrd. US-Dollar

soll der globale Markt für selbstheilende Materialien bis 2030 erreichen, bei einer jährlichen Wachstumsrate von rund 25 Prozent zwischen 2023 und 2030.

Auf Selbstheilung von Beton setzt auch die Universität von Cambridge. Die Forschenden haben per 3D-Druck eine Stützkonstruktion aus Beton gedruckt. Sie ist nicht nur filigraner und damit materialsparender als vergleichbare gegossene Teile. Sie verfügt auch über Sensoren, die die Konstruktion über Jahrzehnte selbst überwachen und Selbstreparaturen eigenständig anstoßen können. Der Selbstheilungseffekt funktioniert auch bei Farben und Lacken. Sie waren zunächst für selbstreparierende Autolacke gedacht. Doch was bei mikroskopisch kleinen Kratzern bereits funktioniert, die beispielsweise in der Waschanlage entstehen, hinterlässt bei fürs bloße Auge sichtbaren Lackkratzern eine (ver-)störende Kraterlandschaft.

Auch in der Medizintechnik könnten interessante Anwendungen entstehen, zum Beispiel im Bereich von Implantaten oder Wearables für das Monitoring von Krankheiten oder auch im Bereich der Low-cost-Sensorik für das Umweltmonitoring. Eine Anwendung, die sich heute schon abzeichnet, sind zum Beispiel Aktuatoren für Softrobotik. Da geht es um Materialien, die ihre Form oder ihr Volumen ändern, wenn sie Licht, externen Impulsen, Feuchtigkeit oder gewissen Substanzen ausgesetzt sind. Auch interessant: selbst nachwachsende Beschichtungen. Schaeffler arbeitet bei seiner Spezialbeschichtung „Corrotect“, einem Korrosionsschutz für Wälzlager und Präzisionsteile, mit ultradünnen Schichten von Nanopartikeln aus Siliziumoxid, der sich bei einem Schaden durch den Kontakt mit Sauerstoff selbst heilen kann.
Professorin Aránzazu del Campo, wissenschaftliche Geschäftsführerin am Leibnitz-Institut für Neue Materialien, will mit ihren Forschungen Werkstoffen neues Leben einhauchen, benennt aber auch Problemfelder, vor allem mit Blick aufs Recycling: „Wichtig ist, die Frage zu klären, wie man gewährleistet, dass durch die Nutzung von lebenden Materialien keine Gefahren für die Umwelt entstehen – Stichwort Biocontainment, also die Biosicherheit von Labors. Beispielsweise muss man schon in der Materialentwicklung einplanen, dass die enthaltenen Zellen unter bestimmten Bedingungen nicht überleben können.“ Trotz aller Fortschritte in der Bionik – noch scheint nicht alles entschlüsselt zu sein.

Künstliche Intelligenz beschleunigt Materialsuche

Von der Erprobung bis zur massenweisen Produktion – der Weg zur Marktreife neuer Materialien dauert nicht selten mehr als eine Dekade. Das KI-Unternehmen Google Deepmind möchte diesen Prozess mithilfe künstlicher Intelligenz beschleunigen, indem diese die Struktur von über zwei Millionen potenzieller neuer kristalliner Materialien prognostiziert. Nach Angaben des Tech-Portals „The Next Web“ sind das 45-mal mehr Materialien, als bislang in der Wissenschaftshistorie entdeckt oder erfunden worden sind. Ein Jahr hat die Deepmind-KI dafür gebraucht. Knapp 400.000 der Materialien könnten sogar schon bald unter Laborbedingungen hergestellt werden.

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Leicht wie Keramik, härter als Stahl

Keramik gehört zu den ältesten künstlichen Werkstoffen der Menschheitsgeschichte. Funde lassen vermuten, dass keramische, also anorganische nichtmetallische Werkstoffe, schon vor 25.000 Jahren genutzt worden sind. Dazu zählen beispielsweise Steingut, Terrakotta und Porzellan. Aber die Tonware ist nicht nur etwas für Haushalt und Museum, Keramik wird vermehrt in Hightech-Komponenten als leistungsfähigere Alternative zu Stahl eingesetzt. So produziert die Motion Technology Company Schaeffler Kugeln für hochpräzise Wälzlager für Zukunftsbranchen wie etwa Windenergie, Luft- und Raumfahrt und nahezu alle elektrifizierten Anwendungen aus Keramik statt Stahl.

Solche technische Keramik zeichnet sich durch extreme Härte, geringe Masse, Beständigkeit gegenüber hohen Temperaturen, Chemikalien und hohe Verschleißfestigkeit, geringe Reibung gegen Stahl sowie ihre ausgezeichneten elektrischen Eigenschaften bezüglich Isolation und Durchschlagfestigkeit aus. Diese Eigenschaften machen Keramik schon heute zu einem Werkstoffliebling in Branchen wie Windkraft und Solartechnik, Brennstoffzellen, Chemische Industrie, Elektrotechnik, Hochtemperaturtechnik, Luft- und Raumfahrt, Maschinenbau, Mikrosystemtechnik oder auch Medizintechnik.

Die Werkstoffeigenschaften von Keramik sind untrennbar mit den Herstellungsschritten verbunden, bestehend aus Aufbereitung des Pulvers, Formgebung und Brand. Durch unterschiedliche Brennverfahren und Brennatmosphären sowie durch die Korngröße und Brenntemperatur lassen sich verschiedenste Eigenschaften des gleichen Stoffgemisches erzielen.

3 Meter

lang und bis zu 30 cm im Durchmesser können keramische Heizrohre in der Metallindustrie messen. Es sind die aktuell größten keramischen Bauteile auf dem Markt. Nur rund 40 Unternehmen auf der Welt können sie in diesen Dimensionen fertigen.

Durch die Weiterentwicklung des Eigenschafts-Mikrostruktur-Verständnisses entstehen im Bereich der Keramik immer wieder neuartige Werkstoffkonzepte. Neben Faserverbundstoffen gewinnen hybride Kompositen auf Basis von Keramik-Metall-Polymer-Kombinationen immer mehr an Bedeutung. Schaeffler Special Machinery, der Sondermaschinenbau der Schaeffler Gruppe, hat jüngst ein neuartiges System für Multimaterial-3D-Druck vorgestellt, das Teile in einer Materialkombination aus Metallen und Keramiken fertigen kann. „Die Lösung ermöglicht Kunden innovative Materialkombinationen, neue Funktionsintegration in Bauteile und Werkzeuge sowie höhere Flexibilität bei der Gestaltung von Produkten und Werkzeugen“, sagt Bernd Wollenick, Senior Vice President Schaeffler Special Machinery.

Es zeichnet sich ab, dass Keramik auch ein Schlüsselelement in der Entwicklung kleinerer, leichterer, sicherer und leistungsstärkerer Feststoff-Antriebsakkus sein wird und damit entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der E-Mobilität nehmen könnte. Bei der Feststoffbatterie fungiert eine dünne keramische Schicht gleichzeitig als Festelektrolyt und Separator. Bisher erforderte der Sinterprozess für die Fertigung der Keramik-Elemente aber Temperaturen von über 1.000 °C. Das verursachte bislang technische Probleme und trieb Energieverbrauch und Preis in die Höhe. Ein neues, von Forschenden des Massachusetts Institute of Technology (MIT) und der TU München entwickeltes Syntheseverfahren kommt aber mit 500 °C aus und könnte so ein wichtiger Türöffner für den Markteintritt von Keramik-Feststoffbatterien mit Reichweiten von über 1.000 Kilometern sein.

CO₂ kann auch ein Rohstoff sein

Kohlenstoffdioxid ist einer der Haupttreiber des Klimawandels – die CO₂-Emissionen müssen daher künftig sinken. Einen möglichen Weg zur Reduktion zeigen Fraunhofer-Forschende auf: Sie nutzen das Klimagas als ­Basismaterial, etwa für Kunststoffe. „Wir nutzen das ­klimaschädliche Abfallprodukt CO₂ als ­Rohstoffquelle“, sagt Dr. Jonathan Fabarius, Themenfeldleiter für die Mikrobielle Katalyse am Fraunhofer-Institut. „Dazu verfolgen wir zwei Ansätze: Erstens die heterogene chemische Katalyse, bei der wir das CO₂ mit einem Katalysator zu Methanol umsetzen. Zweitens die Elektrochemie, mit der wir aus dem CO₂ Ameisensäure produzieren.“

Die Besonderheit liegt in der Kombination mit der Biotechnologie, genauer gesagt mit der Fermentation durch Mikroorganismen. Die Forschenden nutzen Methanol und Ameisensäure als Futter für Mikroorganismen, die daraus weitere Produkte produzieren. Ein Beispiel für ein solches Produkt sind organische Säuren, die als Bausteine für Polymere verwendet werden – man könnte auf diese Weise CO₂-basierten Kunststoff herstellen. Auch Aminosäuren lassen sich so produzieren, etwa als Nahrungsergänzungs- oder Futtermittel.

Rekordgeschwindigkeit

In Silizium-Halbleitern der aktuellen Generation streuen Elektronen bei ihrem Weg von A nach B massiv aus. Das erzeugt Wärme, die keine Verwendung findet, und den Computerchip letztlich nur verlangsamt. An der US-amerikanischen Columbia-Universität haben Forschende jetzt ein superatomares ­Material mit der eingängigen chemischen Formel „Re6Se8Cl2“ vorgestellt, das es Teilchen um den Faktor 100 bis 1.000 schneller ermöglicht, von A nach B zu gelangen als ihre Siliziumkollegen. Fazit der US-Wissenschaftler: „Wenn man an einen Gigahertz-Prozessor denkt, könnte man derzeit im Prinzip Hunderte von Gigahertz oder vielleicht ein Terahertz bei der Schaltgeschwindigkeit des Transistors mit dem neuen Material erreichen.“ Hindernis: Das benötigte Rhenium ist eines der seltensten Elemente in der Erdkruste, während Silizium am zweithäufigsten ­vorkommt.