Band im Sand
© Neom
Mai 2023

Band im Sand

Von Björn Carstens und Rosa Grewe
Manche halten die Bandstadt The Line für ein visionäres Jahrtausendprojekt, andere für ein Stück aus Absurdistan. Wie eine Stadt 170 Kilometer in die Wüste wachsen und die Zukunft Saudi-Arabiens sichern soll. Eine Bestandsaufnahme im Frühjahr 2023.

Neom heißt das Städtebau-Vorhaben, über das weltweit wohl am meisten diskutiert wird. Vermutlich weil es eher an einen Science-Fiction-Film erinnert – dieses gigantische, vielleicht größenwahnsinnige „Wüstenstadt-Raumschiff“ mit den Ausmaßen Albaniens (circa 26.500 Quadratkilometer groß), das bis 2030 inmitten von Sand, Steinen und Bergen im Nordwesten Saudi-Arabiens am Roten Meer gelandet sein soll. Initiiert wurde das Megaprojekt, das auf eine grundlegende Erneuerung der saudischen Wirtschaft abzielt, durch den umstrittenen Kronprinzen Mohammed bin Salman. Die Idee hinter seinem Lebenswerk: Weg vom Öl, rein in die Zukunft. Kann ein solches Projekt gelingen? Und zu welchen Bedingungen?

Was ist Neom überhaupt?

Der inoffizielle Startschuss für Neom fiel weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit mit dem Bau eines Flughafens schon im Jahr 2015. Eine unbefestigte Militärpiste wurde in einen internationalen Flughafen verwandelt, der „Neom Bay Airport“ in der nordwestlichen Region Saudi-Arabiens dient als logistischer Ausgangsort, um Materialien, Maschinen und Arbeitskräfte einzufliegen. Ansonsten teilt sich Neom in vier Teilprojekte auf: Sindalah, Trojena, Oxagon und das bekannteste The Line.

Sindalah: Eine Insel als Luxus-Reiseziel im Roten Meer.

Trojena: Das Gebirge von Neom. Hier sollen Skipisten und Wanderrouten entstehen.

Oxagon: Halb auf dem Meer gelegen soll hier die Industrie von Neom beheimatet sein.

The Line: Das zentrale Projekt, eine 170 Kilometer lange und nur 200 Meter breite Bandstadt, eingefasst von 500 Meter hohen, verspiegelten Mauern – wie ein vertikaler Wolkenkratzer liegt The Line in der Wüste. Die Linealstadt verbindet die saudische Wüste mit der Meeresstraße von Tiran im nördlichen Teil des Roten Meeres. Die Lage ist strategisch interessant. Gegenüber, auf der anderen Küstenseite, liegt Sharm el Sheikh, einer der wichtigsten und umsatzstärksten Ferienorte des Nahen Ostens, nur wenige Flugstunden von Europa entfernt und im politisch verbündeten Ägypten gelegen. Hier möchte sich Saudi-Arabien nicht nur bildlich, sondern auch baulich, mit einem Brückenschlag nach Ägypten, mit dem Westen enger verbinden und weltweit als zukunftsfähig beweisen.

Die Fakten zu The Line
  • Eine Million Einwohner
    soll The Line bis 2030 beherbergen. Nach weiteren Ausbaustufen sollen es bis 2045 neun Millionen sein.
  • 380.000 zukunftsgerichtete Jobs
    sollen durch The Line entstehen.
  • The Line
    soll energieautark und CO2-neutral sein.
  • Die Energieversorgung
    wird über Solar- und Windkraftanlagen sichergestellt, zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien.
  • Die Stadt
    ist ohne Autos und Straßen geplant.
  • Eine Hyperloop-Highspeedbahn
    soll in 20 Minuten zwischen den beiden Enden verkehren. Das verlangt eine Geschwindigkeit von mehr als 500 km/h.
  • Alle Geschäfte und Dienstleistungen
    sollen innerhalb von fünf Minuten erreichbar sein.
  • Als Smart City
    sollen Daten über sämtliche Abläufe erfasst werden und die Effizienz der Infrastruktur mittels künstlicher Intelligenz erhöhen.
  • Für The Line
    soll es ein eigenes, ein liberaleres Rechtssystem geben.
  • Bis zu fünf Millionen Touristen
    sollen durch The Line ins Land gelockt werden.
  • Kalkulierter Investitionsumfang
    bislang: circa 500 Milliarden US-Dollar.
Warum The Line kein Wolkenkuckucksheim ist:

„Neom und die Bandstadt The Line sind mehr als nur PR. Sie sind realistisch, weil der Kronprinz den Umbau des Staates vorantreibt“, sagt einer, der es wissen muss. Der Münchner Landschafts- und Stadtplaner Prof. Rainer Schmidt lehrte an den Universitäten von Peking und Berkeley, plante und realisierte zahlreiche große Stadt- und Landschaftsprojekte, unter anderem im arabischen Raum. Er kennt die Region, die Projektplanungen, die Entwicklungen und Entscheidungsstrukturen auf der Arabischen Halbinsel seit Jahrzehnten. Er weiß: Neom und The Line sind keine größenwahnsinnige Utopie, sondern der Beginn eines notwendigen gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels in der Region – für eine Lebensperspektive ohne Öl und mit mehr persönlichen Freiheiten, wie Rainer Schmidt sagt: „Die Menschen dort begehren auf.“

Schmidt, der darauf verweist, „in das Projekt am Rande involviert zu sein“, stuft Neom auch technologisch als „absolut realisierbar“ ein. Selbst die monumentale, futuristische Architektur erachtet er angesichts der örtlichen Gegebenheiten für sinnvoll, wie die Historie zeige: „Eine typische arabische Stadt in der Wüste war auch früher von Mauern umgeben, zum Schutz vor Sandstürmen und Hitze. Hinter der Mauer war es immer kühl. Nichts anderes passiert bei Neom. Zudem wird durch die Fassadenausrichtung gen Süden Fotovoltaik im großen Stil möglich sein“, erläutert Schmidt, der auch Highspeedzüge mit Geschwindigkeiten von mehr als 500 km/h für umsetzbar hält: „Das ist technologisch zweifellos machbar.“

Sebastian Sons ist Saudi-Arabien-Experte bei CARPO (Center for Applied Research in Partnership with the Orient). Er weiß: „Saudi-Arabien durchläuft seit Jahren einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel.“ Auch für ihn sind die saudischen Stadtutopien „ein Zeichen an uns, an den Westen, Saudi-Arabien als etwas darzustellen, als was man es bisher nie wahrgenommen hat, nämlich als ein Land, das in die Moderne strebt“. Dem Königshaus gehe es darum, das Unmögliche möglich zu machen und das der gesamten Welt zu zeigen. „Der Bau hat bereits begonnen, und damit ist es eigentlich irrelevant, ob The Line am Ende genauso aussieht wie auf den Visualisierungen. Wenn nur die Hälfte des Geplanten verwirklicht wird, ist das ein Meilenstein fürs Land. Es geht um das Narrativ, Saudi-Arabien sei für internationale Unternehmen der künftige Place-to-be. Es soll eine Goldgräberstimmung erzeugt werden.“

Das Königshaus mit seinem Herrscher Mohammad bin Salman setze mit Neom aber nicht nur ein wichtiges Zeichen nach außen, sondern auch nach innen, so Sons. „70 Prozent der saudischen Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre alt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei rund 20 Prozent. Das ist ein Riesenproblem für die Herrscherfamilie. Das Hauptziel der Vision 2030 ist es, Arbeitsplätze für junge, einheimische Arbeitskräfte zu schaffen. Nur dann ist der Bau von Neom für den Kronprinz sinnvoll.“

Band im Sand
Eine Ausstellung zeigt, wie die Bewohner von Neom zwischen den Mauern leben könnten© Neom
Was ist eine Bandstadt?

Der Spanier Arturo Soria y Mata entwickelte die Idee einer Bandstadt Ende des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die Probleme, die durch die rasante Stadtentwicklung während der Industrialisierung entstanden waren. Soria y Mata ging es dabei um „die Verländlichung der Stadt und die Verstädterung des Landes“. Seine erste lineare Stadt sollte die Satellitenstädte um Madrid miteinander verknüpfen. Verwirklicht wurde das 5,2 Kilometer lange Teilstück Ciudad Lineal im Osten Madrids. Wolgograd ist ein weiteres Beispiel für eine Bandstadt vom Reißbrett oder Shenzhen in China, die als längliche Freihandelszone als bandartige Agglomeration geplant wurde. Deutsche Bandstädte sind aufgrund der Topografie Jena und Wuppertal, letztere mit der für damalige Verhältnisse technologischen Innovation einer Schwebebahn. „Eine Bandstadt hat den Vorteil, von jeder Stelle schnell in die Landschaft zu kommen. Ein Nachteil sind die weiten Distanzen, dadurch wird Nachbarschaft und Kommunikation erschwert. Allerdings verringern Technologien wie der Hyperloop dieses Problem zunehmend“, sagt Prof. Rainer Schmidt.

Warum The Line in der Kritik steht:

Nachhaltigkeit: Obwohl die Linealstadt zu 100 Prozent mit erneuerbarer Energie versorgt werden soll, moniert Amandus Samsøe Sattler, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB): „The Line hat rein gar nichts mit Nachhaltigkeit zu tun.“ Die Wolkenkratzerscheiben, die durch die schnurgerade Konzeption auch durch Bergmassive gebaut werden müssten, könnten mit keiner bekannten Technologie klimaneutral errichtet werden. Auf mindestens 1,8 Milliarden Tonnen CO₂ schätzt Philip Oldfield, Architekturprofessor in Sydney, die giftigen Emissionen, die durch das Projekt entstehen. Prof. Rainer Schmidt sagt dazu: „Wenn man nur den Prozess des Bauens betrachtet, ist so ein Projekt in der Wüste sicher nicht nachhaltig, im Vergleich zu anderen Städten in der Region dann aber wieder doch, wenn man den laufenden Betrieb beurteilt.“

Ressourcen: Experten warnen vor Verschwendung. 170 Kilometer grün bepflanzte Fläche mitten in der Wüste, das erscheint angesichts extrem knapper Wasserressourcen ineffizient. Zudem würde in der schmalen Schlucht nie ein Lichtstrahl den Boden erreichen, der Energieverbrauch für künstliche Beleuchtung, Klimatisierung und Infrastruktur wäre enorm. Eine wissenschaftliche Arbeit an der Uni Heidelberg hat errechnet, dass für die Energieversorgung von Neom eine Fläche so groß wie die Slowakei mit Solarmodulen bebaut werden müsste. Rainer Schmidt widerspricht in puncto Wassermanagement und berichtet von dem Erfolg eines bewaldeten Parks in Riad, den er plante: „Mit effizienten Bewässerungssystemen, mit einer Wasser- und Erdaufbereitung – da werden zum Beispiel Böden mit Bakterien angereichert – ist eine Begrünung der Wüste nachhaltig möglich.“ Und er verweist auf das Projekt der Aufforstung der Sahara, das nicht nur machbar, sondern aus ökologischen Gründen sogar sinnvoll und nötig ist, um die Wasserspeicherfähigkeit des Bodens zu erhöhen und die Ausbreitung der Wüste zu verhindern. Wassermanagement und die Begrünung trockener Regionen könnten langfristig die notwendige Wasserversorgung und eine möglichst ertragreiche lokale Landwirtschaft in wachsenden Stadtregionen in Afrika und im arabischen Raum ermöglichen, so Schmidt. Kritiker befürchten hingegen, dass genau das Gegenteil zutrifft: The Line könnte das wertvolle Grundwasservorkommen anzapfen, das sich vor rund 25.000 Jahren gebildet hat, als die Arabische Halbinsel noch grüne Savanne war, und das zu den größten der Erde zählt. Von dem sich nicht erneuernden Reservoir profitiert die gesamte Region, vor allem Jordanien.

Band im Sand
Wie sieht das Wassermanagement für The Line aus?© Neom

Liberalisierung: Unabhängig von ökologischen Betrachtungen stellt sich die Frage, ob The Line überhaupt genug Menschen und Investoren aus aller Welt anziehen kann. Immerhin unterscheiden sich die saudische Rechtslage und der Freiheitsgrad für Kritik übende, ethnische oder andere Minderheiten sowie Frauen deutlich von den demokratisch regierten Ländern, aus denen viele der Investoren, Gäste und zukünftigen Bewohnenden stammen könnten. Und ohne diese geht es nicht, wie Rainer Schmidt sagt: „Eine Finanzierung des Projektes nur aus Einnahmen des Erdölsektors ist nicht realistisch.“ Beflügelt das Projekt also den gesellschaftlichen Wandel in Saudi-Arabien hinsichtlich Demokratie und einer pluralistischen und liberalen Gesellschaft? Sebastian Sons antwortet darauf: „Ja, aber es gibt Grenzen. Klar will der Kronprinz durch die Öffnung des Landes eine gewisse gesellschaftliche Liberalisierung international signalisieren, um Investoren anzulocken. Der eigenen, jungen Bevölkerung verspricht bin Salman zudem Modernität. Allerdings liegen die Grenzen da, wo der konservative Klerus, die Religionsgelehrten massiv berührt werden, denn Saudi-Arabien fußt auf einem sehr konservativen und strikten Islamverständnis, und das kann man nicht so ohne Weiteres aushebeln. Wer an Wandel durch Handel glaubt, so dass sich in Saudi-Arabien demokratische Strukturen entwickeln, der irrt sich. Das wird nicht passieren.“ Laut Sons wird es auf eine Freihandelszone mit gesonderter Rechtslage für Neom und The Line hinauslaufen: „Der Unterschied der Freiheit zum restlichen Land darf jedoch nicht zu groß werden, andernfalls würde das Potenzial für Kritik bieten.“

Menschenrechte: Saudi-Arabien ist ein autokratisch regierter Staat. Mohammed bin Salman zieht seine Vision von der Megacity offenbar gegen alle Widerstände durch. Beduinen in der Wüstenregion klagen über Zwangsräumungen und Verhaftungen. Ein Report der Londoner NGO Alqst zeigt Gewalt gegen den Stamm der Huwaitat auf, der in dem Gebiet lebt, wo jüngst der Bau für Neom gestartet ist. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen gab jüngst eine Erklärung heraus, in der er die geplante Hinrichtung von drei Personen anprangerte, die sich angeblich gegen das Neom- Megaprojekt in Saudi-Arabien ausgesprochen haben.

Zu guter Letzt die spannende Frage: Wer soll eigentlich in The Line wohnen? „Klar ist nur eines: Sozialer Wohnungsbau wird das keiner sein“, stellt Sebastian Sons klar.

Kurze Wege auf dem Vormarsch

Beim Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg sahen die Planenden eine große Chance auf Veränderung: Da immer mehr Menschen motorisiert waren, wurden Städte weitläufiger geplant und scheinbar effizient und funktional nach Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Verkehr aufgeteilt. Viele der dabei entstandenen Trabantenstadtteile erwiesen sich aber weder als fußgängerfreundlich noch als lebendig und atmosphärisch. Und weil sie mit ihren Monostrukturen wenig wandlungsfähig waren, waren sie sehr krisenanfällig bei wechselnden sozialen sowie ökonomischen Entwicklungen und wurden zu Brennpunkten. Die erhoffte Effizienz der Funktionsteilung kehrte sich in vielen Bereichen um. Spätestens seit Mitte der 1990er-Jahre ist wieder die durchmischte, verdichtete Stadt das Ideal – auch in Paris. Bürgermeisterin Anne Hidalgo proklamierte die „Stadt der 15 Minuten“: Ähnlich wie in The Line sollen auch in Pariser Quartieren am Ende des Jahrzehnts alle Dinge des täglichen Lebens – der Arbeitsplatz inklusive – innerhalb weniger Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreicht werden können. Corona hievte die Idee der autarken Unterzentren auf die Schreibtische vieler Stadtplaner. Die eigene Wohnung wurde zur sicheren Burg, das Leben soll sich in direkter Reichweite abspielen. Aber auch Kritiker solcher dezentralisierenden Konzepte melden sich zu Wort. „Durch die Schaffung der ‚Stadt der Viertelstunde‘ baut Paris neue Mauern und versinkt im Egoismus“, schrieb beispielsweise die Journalistin Alice Delaleu im Online-Magazin „Chroniques d’architecture“ gerade auch im Hinblick auf die Abgrenzung ärmerer Stadtviertel am Rand. Andere befürchten durch die Verbannung des Autos die Benachteiligung weniger mobiler Bevölkerungsschichten wie Senioren oder Menschen mit Behinderungen.

Band im Sand© Digital Vision/Getty