Aus Spaß wird Ernst
Wer Atlas, Spot oder Handle bei ihren Kunststücken auf YouTube zusieht, den befällt eine Mischung aus Faszination und Sorge. Da geht etwa der humanoide Roboter Atlas locker in den Handstand, rollt sauber ab, schlägt einen Purzelbaum und springt in Parkour-Manier über Baumstämme und Holzkisten. Steine, Wurzeln, gar Schnee überwindet er spielend – und wenn die Maschine doch einmal hinfällt, steht sie einfach wieder auf und geht weiter. Kein anderer humanoider Roboter ist weiter entwickelt oder nur annähernd so gelenkig und agil wie Atlas. Das erinnert an den Terminator. Sein vierbeiniger, Golden-Retriever-großer Kollege Spot kann unter anderem Seilspringen, mit seinem Roboterarm Türen öffnen oder im Rudel einen tonnenschweren Lkw ziehen. In einem erst vor wenigen Wochen veröffentlichten Clip schwingen Atlas, Spot und der entfernt an einen Vogel erinnernde rollende Logistikroboter Handle sogar ausgelassen das Tanzbein beziehungsweise -rad.
Die Geschicklichkeit und Akrobatik der Roboterwesen des US-Unternehmens Boston Dynamics sind für Laien und Experten gleichermaßen beeindruckend, wie die millionenfach angeklickten Videos ihrer Entwicklungsfortschritte immer wieder belegen. Allein dauerhaft die Balance bei dynamischen Bewegungen zu halten oder sie nach einem Sturz wiederzufinden war für Laufroboter lange Zeit nicht möglich. Besonders bemerkenswert für die Fachwelt ist aber die Lernfähigkeit von Systemen wie Atlas: Die Roboter müssen nicht erst mit Daten darüber gefüttert werden, in welchem Terrain sie sich bewegen oder welchen Weg sie nehmen sollen – sie gehen einfach los und passen ihr Verhalten an die Umgebung an, die sie mithilfe ihrer Sensorik interpretieren. Fast wirkt es, als seien die Boston-Dynamics-Roboter frei, überall hinzugehen, zumindest so weit sie mit einer Akkuladung kommen. Was noch nicht stimmt, wie die Entwickler einräumen, was aber das klare Ziel ist.
Wie Menschen und Tiere sollen die Roboter von Boston Dynamics irgendwann nahezu keine Grenzen in ihrer Bewegungsfreiheit haben. Das ist eine schöne Vision, aber sind die aktuell aufgeführten Sportübungen und Tanzeinlagen tatsächlich mehr als eine technische Spielerei? Wo liegt der Nutzen, wo der kommerzielle Einsatz? „Wir denken, dass die Fähigkeiten, die mit Tanz und Parkour verbunden sind, wie Agilität, Gleichgewicht und Wahrnehmung, grundlegend für eine Vielzahl von Roboteranwendungen sind“, sagt Aaron Saunders, Entwicklungschef von Boston Dynamics. Aus den verschiedenen Aktionen und Versuchen, die auf den ersten Blick nur seltsam und lustig erschienen, hätten seine Kollegen und er viel über die Robustheit der Technik gelernt. Spot sei aufgrund dieser Erfahrung inzwischen so wartungsarm, dass er ähnlich wie ein Auto sehr lange am Stück betrieben werden könne, ohne dass jemand eingreifen müsse.
Schau mir in die Augen, Robo!
Der Entertainment-Konzern Disney setzt auf Roboter aus dem eigenen Entwicklungslabor als Doubles in Filmen und Themenparks
Auftragsforschung fürs Pentagon
Der gelbe Vierbeiner ist daher auch das erste kommerzielle Produkt des 1992 von Marc Raibert als Spin-Off des Massachusetts Institute of Technology (MIT) gegründeten Unternehmens. Spot markiert damit eine Zeitenwende. Bisher lebte Ex-MIT-Professor Raibert hemmungslos seinen Spieltrieb aus, während andere Roboterhersteller wie Mitsubishi, ABB, Fanuc, Kawasaki, Yaskawa, KUKA oder Dürr ihre metallenen Helfer längst erfolgreich in die Fertigungsprozesse dieser Welt eingebunden haben – als höchst effiziente Arbeiter, die präzise und schnell ihrer monotonen Tätigkeit nachgehen. Raiberts Roboter sollten anders sein. Er wollte nicht weniger als Laufroboter entwickeln, die so wendig und geschickt sind wie Menschen und Tiere. Teure Forschungsarbeit ohne Marktbezug, die sich das Start-up leisten konnte, da es mit der DARPA, einer Forschungsagentur des US-Verteidigungsministeriums, früh einen potenten Sponsor fand. Für die Pentagon-Ideenschmiede entwickelte Boston Dynamics etwa das Legged Squad Support System (LS3), ein geländegängiges Roboter-Maultier, das Soldaten bis zu 180 Kilogramm Feldgepäck abnehmen und gut 30 Kilometer weit tragen konnte. Auch Atlas-Vorgänger Petman gehörte zu den DARPA-Auftragsentwicklungen. Mit dem Humanoiden wurde Spezialkleidung getestet, die Soldaten zum Schutz gegen Chemikalien tragen.
Beeindruckt von den Entwicklungserfolgen, übernahm der Google-Mutterkonzern Alphabet Ende 2013 die aufstrebende Roboterfirma. Aus Mangel an Geschäftsperspektiven gab der Internetgigant seine mit großer Erwartung gestartete Robotik-Offensive allerdings schnell wieder auf und verkaufte Boston Dynamics 2017 an den japanischen Konzern Softbank. Aber auch die Technologie-Holding wurde mit dem Robotik-Unternehmen nicht vollständig glücklich. Ende vergangenen Jahres gab Softbank bekannt, die Mehrheit an Boston Dynamics an die Hyundai Motor Group weiterzureichen. Der südkoreanische Automobilkonzern soll demnach ab Mitte dieses Jahres rund 80 Prozent des mittlerweile auf 1,1 Milliarden Dollar bewerteten Robotik-Unternehmens halten, Softbank den Rest. Währenddessen tat Boston Dynamics einfach das, was es immer tat: aufregende Roboter entwickeln. Auch Hoffnungsträger Spot entstand in dieser bewegten Zeit.
Teuer wie ein Luxusauto
Gespickt mit Sensoren, soll er nun als Inspektionsroboter den Durchbruch schaffen und mit einem Stückpreis von rund 75.000 Dollar für die ersten Umsätze des US-Unternehmens sorgen. Zu den ersten Anwendern gehören die New Yorker Polizei, bei der Spot als Digidog im Späheinsatz ist, sowie das Weltraumunternehmen SpaceX. Dort untersucht der Robo-Vierbeiner havarierte Raketen. „Die Chancen für einen Durchbruch stehen gut“, sagt Marc Dassler, CEO des Start-ups Energy Robotics aus Darmstadt. Das vor zwei Jahren gegründete Unternehmen ist Marktführer für Spezialsoftware, die Roboter aller Hersteller intelligenter macht – auch Spot. „Autonome mobile Roboter, die auf Ölplattformen operieren und sich durch Chemieanlagen oder Produktionshallen bewegen, dabei Ventile kontrollieren, Gaslecks detektieren oder Temperatur- und Druckanzeigen ablesen, stehen vor dem kommerziellen Durchbruch“, schätzt Dassler ein. Der Grund ist simpel: Die Systeme rechneten sich jetzt. „Hardware und Sensoren sind günstig geworden, benötigte Rechenleistung für maschinelles Sehen kann durch Cloud Computing ergänzt werden, dazu ermöglicht die hohe Abdeckung mit Wifi, 4G- oder 5G-Netzen die Robotersteuerung in Echtzeit.“
Dass Hyundai Boston Dynamics übernommen hat, wundert den Robotik-Experten daher nicht. „Als breit aufgestellter Mischkonzern hat Hyundai einen guten Marktzugang und das Potenzial, die Technologien, die Boston Dynamics bietet, wirklich zu nutzen“, sagt Dassler. Der Autobauer spekuliere damit aber nicht auf schnelle Gewinne, sagt Alexander Götte von der h&z Unternehmensberatung. Denn: „Auch wenn die Umsätze mit Spot steigen, werden sie die Entwicklungskosten in den kommenden Jahren nicht im Ansatz kompensieren können.“ Hyundai investiere hier auch nicht in Produkte, sondern in Technologie-Know-how, den Aufbau von Plattformen und Schutz vor Disruption. „Von außen betrachtet halte ich die Boston-Dynamics-Übernahme daher für einen ausgezeichneten strategischen Schachzug von Hyundai“, sagt der Experte für Digitalisierung. Der Autokonzern profitiere schon allein davon, die weit fortgeschrittene Roboter-Technologie im Detail zu verstehen.
Das Auto, das in die Knie geht
Noch bevor Hyundai Boston Dynamics übernommen hat, präsentierten die Koreaner ein Konzeptfahrzeug, das auch aus der Robo-Schmiede hätte kommen können: Das Transformer-Mobil TIGER (Transforming Intelligent Ground Excursion Robot) verbindet die beiden Fortbewegungskonzepte Gehen sowie Rollen und ist dadurch extrem agil. Der TIGER kann nicht nur über Stock und Stein klettern, sondern sich auch in jede beliebige Richtung fortbewegen – vorwärts, rückwärts, seitlich und diagonal. Nicht weniger als 28 Motoren sorgen für höchste Beweglichkeit. Sogenannte Ultimate Mobility Vehicles (UMV) wie der TIGER sind für besonders anspruchsvolle Anwendungen und Umgebungen geeignet und an veränderte Bedingungen anpassbar. Sie könnten zum Beispiel bei Naturkatastrophen als Ersthelfer Leben retten. Oder sie bieten Menschen im Rollstuhl, die Stufen vor ihrem Haus nicht überwinden können, die Möglichkeit, an der Haustür abgeholt zu werden. Hyundai will laut Eigenaussage „die Fahrzeugmobilität durch die Kombination von Robotik und rollender Fortbewegungstechnologie neu definieren.“
Vorwärts, rückwärts, seitwärts: Das Konzeptfahrzeug TIGER vereint die Bewegungsformen Gehen und Rollen und ist daher extrem agil und vielseitig
Wegbereiter neuer Mobilitätskonzepte
„Darüber hinaus steigen mit so einem zukunftsgewandten Investment in Robotertechnik und den damit verbundenen Technologien auch die Chancen, entsprechende Technologiekompetenz und Personalerfahrungen sowie qualifizierte Nachwuchskräfte in das Unternehmen holen zu können“, sagt Götte. Eben das suchen die Südkoreaner händeringend: Hyundai will seinen Umsatzanteil am Autogeschäft laut der Financial Times langfristig auf die Hälfe schrumpfen. Aufgefangen werden sollen die Rückgänge zu 20 Prozent mit Einnahmen aus dem Bereich Robotik und zu 30 Prozent mit dem Geschäft rund um das Thema Urban Air Mobility. Hyundai sieht insgesamt Wachstumspotenzial für Logistik- und Inspektionsroboter, die in Lagern und Fabriken eingesetzt werden, sowie für Serviceroboter, die von behinderten oder älteren Menschen genutzt werden können. In diesem zukunftsträchtigen Gesundheitsumfeld sollen „im Laufe der Zeit“ auch humanoide Roboter zum Einsatz kommen.
Die vereinten Fähigkeiten von Hyundai und Boston Dynamic werden „Innovationen im Bereich der zukünftigen Mobilität vorantreiben“, sagt Euisun Chung, Vorsitzender der Hyundai Motor Group. Robert Playter, CEO von Boston Dynamics, kommentiert das Geschäft so: „Wir (…) freuen uns auf die Zusammenarbeit, um unsere Pläne zu beschleunigen, die Welt mit modernster Automatisierung zu versorgen und weiterhin die schwierigsten Robotik-Herausforderungen der Welt für unsere Kunden zu lösen.“ Letzteres hört sich sehr danach an, als ob Fans von Boston Dynamics auch in der neuen Konstellation auf Zuwachs der Roboterfamilie und spektakuläre Videos hoffen dürfen.
Schaeffler in der Robotik
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