Auf dem Weg ins Sauberland

Von Kay Dohnke
Wegwerfen und Verbrennen war gestern – morgen will die dänische Insel Bornholm im Umgang mit Müll ein „Zero Waste“-Konzept verwirklicht haben. Der Weg dorthin ist aber nur mit allen Beteiligten gemeinsam zu schaffen.
© Destination Bornholm

Irgendwann Ende 2017, Anfang 2018 begann auf Bornholm der Countdown zu ticken. Damals machte sich Jens Hjul-Nielsen Gedanken über die Zukunft seiner Firma. Langsam sah er am Horizont das Ende seiner aktuell genutzten Technik heraufdämmern – Investitionen würden anstehen. Doch ist Hjul-Nielsen nicht irgendein Chef irgendeines kleinen Insel-Unternehmens, er verantwortet BOFA, was für „Bornholms Affaldsbehandling“ steht, also das zentrale Abfallentsorgungsunternehmen der Insel.

Dass 2032 die Verbrennungsöfen erneuert werden müssten, bereitete ihm zunehmend Unbehagen. „Müllverbrennung war zwar seit den frühen 1970ern eine funktionierende Lösung“, erläutert er, „aber sie kann keine nachhaltige Lösung sein, da sie viel zu große Mengen CO₂, Asche und Schlacke produziert. Doch wenn wir 2032 eine neue Anlage bauen würden“, ging ihm durch den Kopf, „würden wir für die kommenden 20, 30 Jahre in einem technologischen Lock-in feststecken.“ Um diesen zu verhindern, beschloss Hjul-Nielsen, einen radikal anderen Ansatz zu verfolgen: die Öfen stilllegen und den Müll als Ressource wiederverwerten, statt ihn durch den Schornstein zu jagen.

Auf dem Weg ins Sauberland
Die Insel Bornholm liegt vor der Küste Schwedens und beheimatet fast alle Naturtypen Dänemarks. Das Foto zeigt zum Beispiel eine bewaldete Landzunge am von Felswänden gesäumten Opalsee. Mit einer Fläche von 588 km² ist die sonnenreiche Insel dreimal so groß wie Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen, hat aber nur knapp 40.000 Einwohner© gaiamoments/iStock
Neue Ideen und Technologien gesucht

Ihm war aber auch glasklar: Solch grundlegende Änderungen können nur gemeinsam mit allen Beteiligten funktionieren. In mehreren Meetings überzeugte Hjul-Nielsen zunächst sein Team. „Die Leute waren anfangs sehr skeptisch“, erinnert er sich, „aber langsam kamen doch alle an Bord.“ Jeden Tag die Berge von Abfall zu sehen und Zeuge zu werden, wie sie einfach im Ofen verschwanden, öffnete den Beteiligten die Augen für die Dringlichkeit eines Wandels.

„Um Ideen für die kommenden 14 Jahre zu bekommen, haben wir dann die zurückliegenden 14 Jahre auf Innovationen geprüft, die wir vielleicht weiterentwickeln könnten. Dabei wurde klar, dass wir die Rate der Neuerungen deutlich intensivieren müssten“, sagt Hjul-Nielsen mit Blick auf den Aufbau einer funktionierenden Abfall-Kreislaufwirtschaft und die dafür nötigen neuen Ideen, Konzepte und Kooperationen.

Doch zuerst musste das revolutionäre Konzept politisch durchgesetzt werden. „Bornholm hat einen großen Vorzug“, erklärt David Andreas Mana-Ay Christensen, bei BOFA für Neukonzeption und Projekte verantwortlich und längst Hjul-Nielsens rechte Hand bei der Transformation des Unternehmens. „Inseln ohne feste Landverbindung – also ohne Brücke oder Damm – genießen größere autonome Freiräume als das übrige Dänemark. Darum war auch unsere Müllverbrennung nicht privatisiert worden, was uns nun den nötigen Spielraum für neue Konzepte gab.“ Sechs Monate nach den Mitarbeitern wurden die Insel-Politiker in die Vision eingeweiht. Hjul-Nielsen erinnert sich. „Sie nahmen die Idee in einer einstimmigen Entscheidung an. Damit gewann unser Vorgehen Planungssicherheit und ist auch künftig nicht von möglichen Veränderungen der politischen Kräfteverhältnisse nach Wahlen gefährdet.“

  • Der Schornstein soll fallen: Ab 2032 will Bornholm seinen Abfall nicht mehr verb ...
    Der Schornstein soll fallen: Ab 2032 will Bornholm seinen Abfall nicht mehr verbrennen, sondern vollständig recyceln und der Kreislaufwirtschaft als Ressource zuführen © Brian Kj‘r Johansen
  • „Abfall ist ein grundlegend falsches Konzept. Es erklärt ein Produkt komplett fü ...
    „Abfall ist ein grundlegend falsches Konzept. Es erklärt ein Produkt komplett für nutzlos, nur weil es seine Hauptfunktion nicht mehr erfüllt", sagt BOFA-Projektentwickler David Andreas Mana-Ay Christensen. BOFA steht für Bornholms Affaldsbehandling © BOFA
  • 2018 wurden auf Bornholm von 83.770 Tonnen Müll 66,3 Prozent recycelt, 25,2 Proz ...
    2018 wurden auf Bornholm von 83.770 Tonnen Müll 66,3 Prozent recycelt, 25,2 Prozent verbrannt und 8,5 Prozent deponiert – 2023 waren es nur noch 80.150 Tonnen Abfall, von denen 71,5 Prozent recycelt, 22,6 Prozent verbrannt und 5,9 Prozent deponiert wurden. Die letzten beiden Zahlen auf null zu bringen wird, darüber sind sich die Bornholmer im Klaren, anstrengend. © Brian Kjaer Johansen

Noch bevor die Vision „Zero Waste“ auf der Insel selbst gestartet werden konnte, präsentierten Hjul-Nielsen und sein Team das Konzept zusätzlich vor einem Parlamentsausschuss in Kopenhagen. Und stießen auf großes Interesse. „Wir müssen wohl einigermaßen überzeugend geklungen haben“, berichtet der BOFA-Direktor mit einem Augenzwinkern, „denn schon kurze Zeit später beschloss das Parlament, die Müllverbrennung im ganzen Land bis 2030 um 30 Prozent zu verringern.“

Also Rückhalt auf allen wichtigen politischen Ebenen. Nun stand die Praxis an – aus einer Insel der Müllzerstörer musste eine Insel der Müllretter werden. „Abfall ist ein grundlegend falsches Konzept. Es erklärt ein Produkt komplett für nutzlos, nur weil es seine Hauptfunktion nicht mehr erfüllt. Es wird ausrangiert, fortgeworfen und deponiert oder verbrannt. Und dabei gehen die darin verbauten Ressourcen verloren. Vermittelt man den Konsumenten aber den Wert, der noch immer in einem vordergründig nutzlos gewordenen Produkt steckt, verdeutlicht das die Notwendigkeit und zugleich Chance, durch richtiges Handling den Wert zu erhalten und auch künftig zu nutzen“, kann Mana-Ay Christensen wie ein Mantra immer wieder überzeugend erklären. Eine inselweite Umfrage ergab Rückhalt für die „Zero Waste“-Idee. Mehr als 55 Prozent der Inselbevölkerung unterstützten die neue Zielsetzung, etwa 30 Prozent hatten eine neutrale Meinung dazu, etwa 15 Prozent sprachen sich dagegen aus.

Neue Wege und keine Angst vor Sackgassen

Die Vision „Zero Waste“ klingt nach einem fertigen Konzept, doch Hjul-Nielsen ist ehrlich: „Wir wissen selbst noch nicht genau, was im Einzelnen zu tun ist und wo die Lösungen für zweifellos neu auftauchende Probleme liegen werden. Wir führen hier ein riesengroßes Experiment durch, das nur gemeinsam mit der Inselbevölkerung, den Unternehmen und der Politik funktionieren wird.“ Neben konsequenter Mülltrennung in mehrere Fraktionen, einem umfassenden Kompostieren organischer Abfälle und Möglichkeiten zum Reparieren defekter Geräte gehört auch eine inselweite Online-Tauschbörse für ausrangierte, aber noch nutzbare Gegenstände dazu.

Auf dem Weg ins Sauberland
BOFA-Chef Jens Hjul-Nielsen
© BOFA

„Wir laden alle Individuen und Firmen ein, national wie international, hier mit uns zu kooperieren und neue Dinge auszuprobieren.“

Klingt alles nicht so aufregend und neu – und das ist es auch nicht. Neu ist jedoch, dass Bornholm alle notwendigen Veränderungen und Maßnahmen im Paket zusammen und aufeinander abgestimmt umsetzen will – und muss. Denn das Verfallsdatum der aktuellen Brennöfen gibt einen unverrückbaren Endtermin für die Umstellung des Abfallkonzepts vor. Erste Schritte sind gemacht: 2018 wurden auf Bornholm von 83.770 Tonnen Müll 66,3 Prozent recycelt, 25,2 Prozent verbrannt und 8,5 Prozent deponiert – 2023 waren es nur noch 80.150 Tonnen Abfall, von denen 71,5 Prozent recycelt, 22,6 Prozent verbrannt und 5,9 Prozent deponiert wurden. Die letzten beiden Zahlen auf null zu bringen wird, darüber sind sich die Bornholmer im Klaren, anstrengend.

David Mana-Ay ­Christensen sieht das sportlich: „Vor uns liegt ein nicht kartiertes Terrain und wir müssen sogar erst die Straße bauen, die uns dort hindurchführen soll. Aber genau darin liegt die Herausforderung.“ Sein Chef sekundiert: „Wenn man durch den Wald gehen will, kann man breiten Pfaden folgen und dort ankommen, wo sich schon alle anderen befinden. Probierst du aber neue Wege aus, kannst du in Sackgassen geraten oder im Dickicht stecken bleiben und musst unerwartete Umwege machen. Aber nur so kannst du auf ganz neue Lösungen und Ideen stoßen.“

„Zero Waste" global

Die Zahlen sind alarmierend: Bis 2050 könnte die jährliche Müllbelastung laut UN weltweit von 2,24 auf 3,88 Mrd. Tonnen anwachsen. Besonders erschreckend: Nur 55 % der aktuellen Müllberge werden in entsprechenden Anlagen entsorgt, der Rest irgendwo anders, z. B. 37­ Mio. Tonnen Plastikmüll pro Jahr im Meer. Aber es gibt auch positive Signale. So haben sich weltweit mehr als 550 Städte und Kommunen in der Zero Waste International Alliance (zwia.org) dem Ziel verpflichtet, ihr Müllaufkommen drastisch zu verringern und Abfälle in eine Kreislaufwirtschaft umzuleiten. In der EU verfolgt der Zusammenschluss der Zero Waste Cities (zerowastecities.eu) das gleiche Ziel. Viele der dort engagierten Städte und Kommunen können auf dem Weg zur Null-Müll-Marke beachtliche Erfolge vorweisen:

  • Die sizilianische Gemeinde Calatafimi Segesta hat ihre Mülltrennungsquote zwischen 2011 und heute von 42,7 auf über 85 % etwa verdoppelt.
  • Mailand fordert seine 1,4 Mio. Einwohner seit 2012 auf, Bioabfälle separat zu entsorgen. Heute ist die norditalienische Metropole mit 95 kg Grünmüll pro Kopf ein globaler Vorreiter.
  • Die deutsche Studentenstadt Tübingen führte auf einige Einwegverpackungen eine Steuer ein. Eine Folge: Der Müll in öffentlichen Sammelbehältern ging um 15 % zurück.
  • Sloweniens Hauptstadt ­Ljubljana reduzierte ihr gesamtes Müllaufkommen in einer Dekade um 15 %, der Durchschnitt der recycelten oder kompostierten Abfälle stieg auf 61 % und die Menge des auf Deponien entsorgten Abfalls ging um 59 % zurück.

Neben noch ausfindig zu machenden technologischen Innovationen ist Aufklärung elementarer Programmbestandteil. „Noch in diesem Jahr rollen wir eine erweiterte Mülltrennung in den Haushalten aus, 2025 stehen die Geschäftsleute und Unternehmen der Insel im Fokus mit neuen Lösungen zum Gewerbeabfall“, skizziert Mana-Ay ­Christensen einige der wichtigsten Maßnahmen. „Und wir betreiben Aufklärung, vor allem bei Kindern. Im Besucherzentrum nehmen wir gemeinsam alte Smartphones auseinander und erklären, was man daraus weiterverwenden könnte. Wie bei einem Objekt aus Lego, dessen Bausteine immer wieder anders nutzbar sind. Das versteht bei uns jedes Kind, denn schließlich stammt Lego aus Dänemark.“

Doch BOFA kann und will erklärtermaßen den neuen Umgang mit der Ressource Abfall nicht allein bewältigen. „Die Insel ist wie ein Labor mit 40.000 Leuten, ganz normalen Bürgern, wir sind keine Öko-Insel. Und darum laden wir alle Individuen und Firmen ein, national wie international, hier mit uns zu kooperieren und neue Dinge auszuprobieren. Was mit 40.000 Menschen klappt, kann auch mit 400.000 funktionieren oder mit noch vielen mehr“, fasst Hjul-Nielsen die Situation zusammen.

Bis 2032 will sich Bornholm aus seiner destruktiven Entsorgungs-Sackgasse herausmanövriert haben. Und was absurd klingen mag: Dann wird, was heute als Müll in die Verbrennung geht, die Insel sogar teilweise wieder verlassen. Nur eben nicht als nutzloser Abfall, sondern als wertvolle, weil bestmöglich aufbereitete Stoffe für eine weitere Nutzung in neuen Produkten.

Kay Dohnke
Autor Kay Dohnke
Seit sich Autor Kay Dohnke auf Zukunftsthemen spezialisiert hat, ist sein Optimismus deutlich gewachsen: Jeden Tag und überall kann man engagierte Menschen entdecken, die vorangehen und Konzepte entwickeln, wie wir klüger mit unserem Planeten umgehen.