Arbeit neu gedacht
Bodo Janssen ist schockiert. Der Chef des mittelständischen Hotel- und Ferienanlagenbetreibers Upstalsboom startet 2010 eine Befragung seiner 650 Mitarbeiter. Das für ihn schmerzhafte Feedback: „Wir brauchen einen anderen Chef.“ Was macht der Verschmähte? Er haut ab – ins Kloster. Unter Anleitung des Benediktinermönchs und Managementtrainers Anselm Grün entwickelt Janssen eine andere Sicht auf viele Dinge. So bekommen seine Mitarbeiter einen neuen Chef. Der hat zwar denselben Namen und dasselbe Aussehen wie vorher, aber er hat auch eine ganz neue Unternehmenskultur im Gepäck. Er gewährt jedem seiner Mitarbeiter die Freiheit, sich persönlich weiterzuentwickeln und sich für das einzusetzen, was ihm wichtig ist – und zwar in selbstorganisierten Teams. Frei nach Perikles’ Motto „Das Geheimnis von Glück ist Freiheit. Und das Geheimnis von Freiheit ist Mut“. Janssen hat diesen Mut bewiesen und wurde auch unternehmerisch belohnt: Der Krankenstand schrumpfte von acht auf drei Prozent, neben den Mitarbeitern waren auch die Gäste deutlich zufriedener und der Umsatz verdoppelte sich in den ersten drei Jahren nach dem Philosophiewechsel.
New Work ist eigentlich ein alter Hut
Der „Upstalsboom-Weg“ ist ein gutes Beispiel für eine gelungene Umsetzung des Themas New Work. Denn er ist weitgehend deckungsgleich mit zwei Grundideen des österreichisch-US-amerikanischen Philosophen Frithjof Bergmann, der den Begriff New Work Mitte der 70er-Jahre in die Welt gesetzt hat. Der heute fast 90-Jährige befand damals, dass die Arbeitswelt dank technischer Innovationen und stetiger Produktivitätssteigerung mehr Raum ließe, um auf die Wünsche und Lebensvorstellungen des Einzelnen einzugehen. Arbeit sei so zu organisieren, fordert Bergmann, dass sie nichts Gezwungenes ist, vielmehr solle man einer Arbeit nachgehen, die man wirklich, wirklich will. Bergmanns zweite Idee: „Die Informationstechnologie macht Hierarchien überflüssig und ersetzt sie durch effizientere und schnellere horizontale Strukturen.“
Also selbstorganisierte Teams mit selbstbestimmten Mitarbeitern. Eine Idee, die – technologiegetrieben – von der Software-Industrie in den 90er-Jahren aufgegriffen wurde. Vielstufige Hierarchien, ein umständliches Berichtswesen und ein den Takt vorgebendes Controlling – das alles bremste Projekte so stark aus, dass Software oft schon veraltet war, wenn sie endlich beim Kunden ankam. Viele Anwendungen wurden auch niemals fertig, weil während ihrer Entwicklungsphase erkannte Probleme nicht nach oben weitergemeldet wurden und so immer neue Abgabetermine gesetzt wurden, von denen die Mitarbeiter an der Basis bereits wussten, dass sie nicht einzuhalten waren. Erst der Wechsel zu einer offeneren Unternehmenskultur und zu flacheren Hierarchien brachte wieder Erfolg am Markt.
Konzerne implementieren New Work – mit Erfolg
Ein immer höherer Innovationsdruck, immer kürzere Produktzyklen und neue Fertigungs- und Entwicklungstechnologien lassen die New-Work-Ideen auch in traditionell eher starren Großkonzernen sprießen. Beispiel Siemens. Dort hatten sich die Planungen für einen Fabrikneubau durch Hierarchien, Kontrollmechanismen und Detailplanung selbst ausgebremst – bis zum Stillstand. Die Siemens-Projektspezialisten Sabine Kluge, Ronny Grossjohann und Dr. Robert Harms leiteten einen radikalen Wandel hin zu selbstorganisierten, agilen Arbeitsweisen ein, in denen die Projektbeteiligten zu wirklichen Unternehmern und Teilhabern der Sache wurden. Die so entstandene Fabrik habe alle Erwartungen übertroffen, bilanzierte Siemens.
Schnelle, agile und schlagkräftige Teams mit Mitgliedern, die wie Unternehmer denken: Diese sogenannten Intrapreneure sind die Transformations-Vorhut großer Konzerne auf dem Weg zu neuer Agilität. Auch der Automobil- und Industriezulieferer Schaeffler hat die Schlagkraft solcher kleinen unternehmerischen Einheiten längst erkannt. Natürlich war und ist der Wechsel zu New Work, der ein sehr tief greifender ist, auch bei Schaeffler kein Selbstläufer. Sandra Köllner, Leiterin New Work, berichtet: „Anfangs gab es natürlich auch skeptische Stimmen. Wichtig ist, dass alle Beteiligten offen darüber sprechen, wie sich Prozesse und Strukturen verändern. Nach einer Anlaufphase wurde New Work an unseren Pilotstandorten aber sehr gut angenommen.“ Der erste nach New-Work-Vorgaben umstrukturierte Bereich bei Schaeffler war der Sondermaschinenbau am Standort Frauenaurach. Im Juni 2017 bezog die Abteilung ihre umgestalteten Büros. „Die agile Zusammenarbeit der Teams erforderte ein neues, offenes Raumkonzept“, erklärt Schaeffler-Experte Andreas Possel. Die Umgestaltung selbst war ebenfalls ein New-Work-Projekt, in das sich die Mitarbeiter als „Change Agents“ eingebracht haben. Am Standort Schweinfurt, im Digital Transformation Center (DTC) in Herzogenaurach sowie in den beiden Gebäuden des sogenannten Air Campus in Nürnberg, in denen IT-Mitarbeiter, Prozess-Spezialisten und Logistiker von Schaeffler beheimatet sind, wird mittlerweile ebenfalls nach New-Work-Grundsätzen gearbeitet.
Dass solche Pilotprojekte nicht nur bei Schaeffler wichtige Impulsgeber sein können, um die gesamte Organisation agiler zu machen, davon ist auch Dr. Thorsten Lambertus, Wirtschaftsingenieur und Intrapreneur-Experte bei Fraunhofer Venture, überzeugt. Dem Fachmedium „automotiveIT“ sagte er: „Man muss an einer Stelle konkret anfangen, sodass sich Keimzellen bilden, die anderen als Vorbild dienen.“
Auf die Teams kommt es an
Die bei New Work proklamierte Selbstbestimmung und Selbstorganisation bedingt ein hohes Maß an Verantwortung – die auf der einen Seite abgegeben und auf der anderen Seite angenommen werden muss. Bei Upstalsboom hat dieses Wechselspiel gut funktioniert. Nicht zuletzt weil der neu kalibrierte Chef Bodo Janssen es weitblickend moderiert. Auch Andreas Possel, Leiter Personal-Strategie bei Schaeffler, weiß, dass Führungskräfte weiterhin wichtig sind: „Sie bekommen bei New Work aber andere Schwerpunkte. Vorgesetzte vertreten ihren Bereich und die Anliegen ihrer Mitarbeiter stärker nach außen, schaffen gleichzeitig nach innen Freiräume und geben mehr Verantwortung an ihre Teams ab.“
Damit die Teams den Ball der Verantwortung aufnehmen können, bedarf es natürlich eines hohen Maßes an vielschichtigen Kompetenzen. Wie solche Projektgruppen am besten funktionieren, hat Google mithilfe von Psychologen, Statistikern, Soziologen und Ingenieuren sowie einem Millionenaufwand zwei Jahre lang in 180 Teams untersucht. Dabei haben sich fünf Thesen herauskristallisiert:
- Psychologische Sicherheit: Teammitglieder müssen innerhalb des Teams Risiken eingehen können, ohne sich unsicher zu fühlen. Fehler und Falscheinschätzungen sind ausdrücklich erlaubt.
- Verlässlichkeit: Jeder im Team muss darauf vertrauen können, dass alle ihre Arbeit pünktlich und gut erledigen.
- Struktur und Klarheit: Ziele, Rollenverteilung und Ausführungswege müssen vom ganzen Team verstanden sein.
- Sinn: Ist das, woran das Team arbeitet, jedem Mitglied persönlich wichtig?
- Einfluss der Arbeit: Jedes Teammitglied muss überzeugt sein, dass seine Arbeit wichtig ist.
Das Ziel ist wichtiger als der Weg
Bei moderner Teamarbeit zählen vorrangig die Ergebnisse. Die Anwesenheitsstunden am Arbeitsplatz oder die Zahl der für das Unternehmen gereisten Kilometer werden immer weniger zu Belegen für berufliches Engagement. Arbeit löst sich von Präsenz. Es ist völlig egal, ob der Mitarbeiter sein Homeoffice nutzt, weil er vielleicht mittags seinen Nachwuchs vom Kindergarten abholen möchte, oder ob er die Sonne im Stadtpark genießt – mit dem Notebook auf dem Schoß. Was zählt, ist einzig der Output. Natürlich fällt es gerade großen Konzernen, in denen man viele unterschiedliche Fraktionen mit tradierten Vorstellungen auf eine Spur bringen muss, schwer, solche flexiblen Arbeitszeit- und Anstellungsmodelle auf den Weg zu bringen. New-Work-Experten sprechen auch gern von Flexicurity. Dieses arbeitsmarktpolitische Konzept soll sowohl die notwendige Flexibilisierung der Arbeit (engl. flexibility) ermöglichen als auch die Sicherheit der Arbeitnehmer (engl. security) garantieren. Hier verkrustete Denkmodelle aufzubröseln erfordert ebenfalls Mut und Überzeugungsarbeit.
In der Berliner Innovationsberatung Partake (englisch für „teilhaben“) gewährt Gründer Dr. Hans-Jürgen Erbeldinger bereits extrem viele Freiheiten: Jeder Mitarbeiter sucht sich vom ersten Tag an selbst die Themen aus, an denen er mitarbeiten will, und setzt jederzeit eigene Projekte auf. Einzige Bedingung: Er muss unter den Kollegen Mitstreiter für seine Idee finden. Findet er diese, ist das ein Qualitätsmerkmal, das ausreicht, um die wie auch immer geartete Idee voranzutreiben. Findet er keine Mitstreiter, wird sein Projekt wieder eingestellt.
Ein so hohes Maß an Freiheit ist natürlich nicht in jedem Unternehmen so gut umsetzbar wie in einer Kreativ-Agentur – und es wird auch nicht von allen Arbeitnehmern goutiert. Oft wird Projektverantwortung als Belastung empfunden. Manche lehnen es ab, eigene Ideen und Arbeitsinhalte teamintern oder nach oben zu vertreten. Sie bevorzugen es, Entscheidungen des Chefs umzusetzen.
Diejenigen, die verrückt genug sind, zu denken, dass sie die Welt verändern könnten, sind diejenigen, die es tun
Steve Jobs,
Apple-Gründer
Aber gerade bei Nachwuchskräften stehen moderne Arbeitskonzepte hoch im Kurs. Flexible Arbeitszeiten, mehr Projektverantwortung, die Möglichkeit, regelmäßig im Homeoffice zu arbeiten oder auch mal eine längere Auszeit vom Job zu nehmen – diese Themen werden oft schon im Bewerbungsgespräch angesprochen und mitunter offensiv eingefordert. Einem McKinsey-Report zufolge drängen 75 Prozent der Nachwuchskräfte der „Generation Z“ (Jahrgang 1997 und jünger) darauf, verschiedene Aufgaben innerhalb eines Unternehmens zu übernehmen. Wohl wissend, dass dieses Job-Hopping ein lebenslanges Lernen erfordert – auch das eine Idee von New-Work-Vordenker Bergmann. Erst die permanente Aus- und Weiterbildung befähigt Menschen, sich flexibel stets neuen Arbeitsbedingungen und Anforderungen anzupassen.
New Work macht Arbeitgeber sexy
Stichwort Nachwuchs: Eine agile Firmenstruktur mit flachen Hierachien und offener Innovationskultur wirkt auf dem Arbeitsmarkt wie eine Leuchtreklame auf junge Menschen, die etwas bewegen wollen. Das ist in Zeiten des Fachkräftemangels ein nicht zu unterschätzender Faktor. Gerade Absolventen von MINT-Studiengängen und digitale Talente können sich ihre Arbeitgeber zunehmend aussuchen. Unternehmen müssen sich daher einiges einfallen lassen, um die besten Köpfe für sich zu gewinnen.
Räumlich attraktive Arbeitsumfelder wirken ebenfalls anziehend. Auch hier weist New Work den Weg. Außerdem wichtig: eine möglichst offene IT-Struktur, in der sich alle Beteiligten zurechtfinden und auf alle benötigten Daten zurückgreifen können. Sehen, fühlen, denken, reden, handeln – alles wird anders in der neuen Berufswelt. Oder wie es New-Work-Erfinder Frithjof Bergmann formuliert: „Wir werden Arbeit ganz anders erleben und empfinden als bisher. Und auf diese Andersartigkeit müssen wir uns alle vorbereiten.“
Weitergeben, weiterkommen
Die eigenen Stärken weiter ausbauen, sich beruflich und persönlich breiter aufstellen und dabei sein Netzwerk vertiefen: Das ist das Ziel des Mentoring-Programms von Schaeffler.
Ab sofort können alle Mitarbeiter daran teilnehmen und sich innerhalb des Unternehmens entweder als erfahrener Mentor oder als wissenshungriger Mentee weiterentwickeln. Eine Umfrage des Karriereportals „Monster“ bestätigt die Erfahrungen von Schaeffler.
Personal-Experte Thomas Zahay von „Monster“: „Es überrascht mich nicht, dass 47 Prozent der ‚Generation Y‘ (Jahrgänge 1980–1999) über Mentoren nachdenken und 22 Prozent sehr gerne einen Mentor hätten. Diese Generation ist es gewohnt, Feedback nicht nur einmal im Jahr zu erhalten, sondern kontinuierlich mit den Chefs und Kollegen im Austausch zu sein. Bedenkt man die besondere Rolle der Eltern als Ratgeber, ist es nicht verwunderlich, dass Millennials die Idee von erfahrenen Kollegen an ihrer Seite gut finden.“ Zahay würde es begrüßen, wenn Programme wie das von Schaeffler Schule machten. „Aktuell haben nur 23 Prozent einen Mentor, der ihnen bei der individuellen Weiterentwicklung hilft“, bemängelt er. Hier besteht ganz klar Nachholbedarf.