Allein mit der Natur
Agilität 24/7
Der Wind peitscht die Gischt übers Boot. Boris Herrmanns Seaexplorer scheint irgendwo im Nirgendwo südlich des 40. Breitengrades ein Spielball meterhoher Wellen zu werden. „Roaring Forties“ nennen Bootsmänner und -frauen das gefürchtete Seegebiet im Südpolarmeer, das die Vendée-Globe-Spitzengruppe nach rund drei Wochen erreicht hat. Dass der Hamburger Profi-Hochseesegler in den tosenden Naturgewalten stoisch den Kurs hält, mag für Landratten ähnlich unmöglich klingen, wie einen Pudding an die Wand zu nageln. Für die Weltumsegler, die im November 2020 bei der Vendée Globe angetreten sind, nicht. Die 33 Frauen und Männer sind es gewohnt, den Launen der See zu trotzen. Wochenlang allein auf den Weltmeeren zu sein, 24/7 einsatzbereit. Einhandsegler müssen Entscheidungen im Takt der Wellen treffen. „Donnernde Vierziger“, leichte Brisen und richtige Flauten, tückische Strömungen, Kollisionen mit Treibgut, mächtigen Meeressäugern – oder Fischerbooten. Mit einem solchen kollidiert Boris Herrmann nachts in der Biskaya, 90 Seemeilen vor dem Ziel. Keines der zig Alarmsysteme hat einen Mucks von sich gegeben. Es kommt zum Crash. Aber nicht zur Havarie. Mit gedrosselter Geschwindigkeit rettet Herrmann die waidwunde Seaexplorer ins Ziel. Nach 80 Tagen auf See hat auch der Skipper seine Belastungsgrenze mehr als erreicht. Zumal die aufputschenden Gedanken an einen möglichen Sieg durch den Last-Minute-Zwischenfall über Bord gespült worden sind.
80 Tage Dauereinsatz. Ständig agil – im Kopf und auf den Beinen, tags wie nachts, abwägen, grübeln, beobachten, philosophieren. Das bringt selbst austrainierte Spitzensportler wie Herrmann an die Grenzen. Der kleinste Fehler, eine Mini-Unaufmerksamkeit, und es wird gefährlich. Schiffbruch bei der Vendée Globe? Keine Seltenheit! Alle neun Ausgaben zusammengerechnet, mussten schon mehrere Dutzend Segler selbige vor dem Ziel streichen. Ausfallquote: knapp unter 50 Prozent. Einige überlebten das Rennen nicht. Boris Herrmann hat die Besteigung des Mount Everest zur See gemeistert, wie die Vendée Globe auch genannt wird. Ein schwieriger Spagat zwischen Abenteuer, Forschungsprojekt und Wettfahrt. „In dem einen Moment ermahne ich mich zu mehr Vorsicht und im nächsten will ich bloß keine Meilen einbüßen. Innerlich debattiere ich mit mir die ganze Zeit. Ich kurbele, bis ich auf dem Zahnfleisch gehe, versuche zu schlafen, zu essen, doch die Frage ist ständig da: doch lieber das dritte Reff?“, gab Herrmann während der Regatta zu Protokoll.
Man denkt die ganze Zeit nach, das okkupiert den Geist permanent
Boris Herrmann
Seine Dauer-Gretchenfrage: Was mache ich wann? Im Job kennt man das von Postkorbübungen in Managementseminaren. Prioritäten setzen. Flexibel sein. Kühlen Kopf bewahren. Richtige Entscheidungen treffen, um nicht Schiffbruch zu erleiden. Hat Boris Herrmann nicht. Weil er an seine Grenzen gegangen ist. Und darüber hinaus. So wie an jenem Tag in der ersten Rennhälfte, als er bei anbrechender Nacht und trotz panikartiger Höhenangst den 30 Meter hohen Mast aufentern muss, um einen defekten Beschlag zu lösen. Einhandsegeln ist auch ein ununterbrochener innerer Kampf gegen sich selbst.
Trimm ist allein Segler-Entscheidung
Vieles machen Solosegler an Computern in der Flugzeugcockpit-ähnlichen, drehbaren Kommandozentrale. Zweimal am Tag lädt der Segler hier Wetterdaten herunter, checkt und programmiert die Navigationssoftware. Die manuelle Arbeit des Segeltrimmens („Grinding“) ist hingegen allein seine Aufgabe, genauso wie die Berechnung des Kurses. Hilfe von außen ist verboten. Das verlangen die Regeln. Die technischen Gadgets erleichtern Herrmann zwar das Leben, aber sie nehmen ihm keine Entscheidungen ab. Das richtige Segel-Setup muss Herrmann anhand von Windstärke und Seegang immer noch selbst treffen. Den Strom für die Bordelektronik liefern eine speziell für das Boot entwickelte Solaranlage und Hydrogeneratoren. Letztere erinnern an Außenbordmotoren, die wie kleine Turbinen am Heck in den Fahrwasserstrom eingeschwenkt werden und Energie erzeugen. CO2-neutral natürlich. Für die Sicherheit sorgen modernste Radarsysteme, eine hermetisch abgeriegelte Crashbox im Vorschiff, je zwei Überlebensanzüge und Rettungsinseln. Die Hitliste der Modifizierungen an Bord führt laut Herrmann jedoch ein speziell zugeschnittener Sitz an, der alle Schiffsbewegungen ausgleicht. „Ich kann dort sitzen, die Monitore beobachten, essen, und wenn sich das Boot viel bewegt, ist das einfach der beste Ort, um sich zu verkeilen – man braucht nicht viel Kraft, um sich festzuhalten“, sagt er.
Zahlen und Fakten
Schwimmendes Minilabor
Bei der Vendée Globe jubelten nicht nur Segelfans, auch Klimaforscher frohlockten. Zuerst über die sichere Ankunft der Akteure und dann über die große Masse an neu gesammelten Daten, die sonst kaum zu bekommen sind. Zwar liefern auch mit Messgeräten ausgestattete Frachter Daten, doch diese fahren meist auf den gleichen Routen. Die Vendée Globe führt dagegen durch das Südpolarmeer und den südlichen Atlantik. Weiße Flecken auf der CO2-Landkarte. Um das zu ändern, ist in der Seaexplorer ein Messgerät eingebaut, das kontinuierlich Daten zum CO2-Gehalt, zur Temperatur und zum Salzgehalt des Wassers speichert.
Das speziell angefertigte, mit 17 Kilo besonders leichte und stromsparende Mini-Ozeanlabor (Kosten: ca. 50.000 Euro) ist an einen Wasserkreislauf im Kiel des Schiffs angeschlossen, durch den jederzeit Meerwasser fließt. „Alle 20 Sekunden werden die Werte gespeichert“, sagte Peter Landschützer vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg in einem Interview mit dem Spiegel. Die Ozeane seien ein wichtiger Indikator bei Prozessen im Klimawandel, da sie einen erheblichen Teil des Kohlendioxids aus der Atmosphäre speichern. Um es genau zu sagen: etwa 25 Prozent des jährlich von Menschen verursachten CO2-Ausstoßes. Andernfalls würde die Erderwärmung noch stärker ausfallen. Alle zehn Tage schickte Boris Herrmann per Satellit Daten an die Wissenschaftler in der Heimat. Die Messergebnisse wurden in die SOCAT-Datenbank (Surface Ocean CO2 Atlas) hochgeladen, ein unglaublicher Datensatz zum globalen Kohlenstoffkreislauf. Erste Auswertungen liegen bereits vor. Eine davon: Das Südpolarmeer speichert vergleichsweise viel mehr Kohlenstoff als andere Weltmeere – ein spannender Trend, den es sich lohne noch genauer zu untersuchen, so Landschützer. Boris Herrmanns Mission war quasi nur der Startschuss für einen Ultramarathon: den Kampf gegen den Klimawandel. Ein wichtiger Schlüssel für ihn: Bildung. Das von seinem Team Malizia mitentwickelte Schulprojekt Ocean Challenge mit weltweiten Schulklassen-Partnerschaften ist Herrmann eine Herzensangelegenheit, die auch nach der Vendée Globe fortgeführt werden soll. Eine neue, super-innovative und nachhaltige Yacht ist ebenfalls schon in Planung. Das Abenteuer geht weiter.
Die Seaexplorer – gespickt mit Sensoren
Zahlen und Fakten
Stapellauf | August 2015 |
Länge | 18,28 m |
Breite | 5,70 m |
Tiefgang | 4,50 m |
Gewicht | 7,6 t |
Masthöhe | 29 m |
Luv-Segelfläche | 290 m² |
Vorwind-Segelfläche | 490 m² |
Geschwindigkeit | max. 40 Knoten (knapp 75 km/h) |
Powernapping auf hoher See
Wann schlafen, wenn man 24/7 im EInsatz ist? Und das 80 und mehr Tage am Stück. Die Lösung der Vendée-Globe-Segler: extremes Powernapping. Eine Schlafstrategie, die schon die Schöpfungskraft von Leonardo da Vinci beflügelt hat. Das Universalgenie soll sogar nur 15 Minuten alle vier Stunden geschlafen haben. Und auch Delfine praktizieren eine spannende Methode: Sie lassen nur eine Gehirnhälfte schlafen und die andere bleibt auf Hab-Acht-Stellung. Regatta-Profi Boris Herrmann schläft während der Vendée Globe maximal 60 Minuten am Stück. Die Häppchen addieren sich aber immerhin auf insgesamt rund sechs Stunden am Tag.
The Vendée Globe is a race we would like to win, the race against climate change is the one we must win!
Maxime des Teams Malizia von Boris Herrmann
Schlafexperte Dr. Holger Hein entschlüsselt Herrmanns „innere Uhr“ seit mehr als 20 Jahren: Mit vielen kleinen Ruhepausen sei Boris Herrmann in der Regel ähnlich erholt wie jeder andere Mensch mit normaler Nachtruhe, sagt er im Hamburger Abendblatt, denn auch diese ist durch kurze, oft nicht erinnerte Wachphasen zerstückelt. „Also hat Boris letztlich nichts anderes getan als wir alle. Nur dass er nach den Schlafphasen nicht gleich weitergeschlafen hat, so wie wir in einer normalen Nacht.“ Viel wichtiger als das Durchschlafen sei die Tiefe des Schlafs und damit seine regenerative Kraft, erklärt Hein. Boris Herrmann hat sich daher die Fähigkeit antrainiert, schnell abzuschalten, sofern er die Augen schließt. Kategorie Eule, nennt Hein diese Gabe. „Eulen“ seien wesentlich flexibler, was das Schlafverhalten angeht, als der klassische Frühaufsteher. Eine von Hermanns Trainingsmethoden: Beim Autofahren legt er sich tatsächlich bei roten Ampelphasen schlafen und lässt sich vom Gehupe der Hinterleute wieder wecken. Muss man auch erst mal drauf kommen …
Seit 500 Jahren um die Welt
1519 begann die erste Rundreise um die Erde. Drei Jahre dauerte die von Ferdinand Magellan gestartete Expedition per Segelschiff. Heute schafft es die Raumstation ISS in 92 Minuten.